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In der Strafkolonie

In der Strafkolonie

Titel: In der Strafkolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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wollte Sie nicht etwa rüh-
    ren,« sagte er, »ich weiß, es ist unmöglich, jene Zeiten heute be-
    greiflich zu machen. Im übrigen arbeitet die Maschine noch und
    wirkt für sich. Sie wirkt für sich, auch wenn sie allein in diesem
    Tal steht. Und die Leiche fällt zum Schluß noch immer in dem
    unbegreiflich sanften Flug in die Grube, auch wenn nicht, wie
    damals, Hunderte wie Fliegen um die Grube sich versammeln.
    Damals mußten wir ein starkes Geländer um die Grube anbrin-
    gen, es ist längst weggerissen.«
    Der Reisende wollte sein Gesicht dem Offizier entziehen und
    blickte ziellos herum. Der Offizier glaubte, er betrachte die Öde
    des Tales; er ergriff deshalb seine Hände, drehte sich um ihn, um
    seine Blicke zu erfassen, und fragte: »Merken Sie die Schande?«
    Aber der Reisende schwieg. Der Offizier ließ für ein Weilchen
    von ihm ab; mit auseinandergestellten Beinen, die Hände in
    den Hüften, stand er still und blickte zu Boden. Dann lächelte
    er dem Reisenden aufmunternd zu und sagte: »Ich war gestern
    in Ihrer Nähe, als der Kommandant Sie einlud. Ich hörte die
    Einladung. Ich kenne den Kommandanten. Ich verstand sofort,
    was er mit der Einladung bezweckte. Trotzdem seine Macht
    groß genug wäre, um gegen mich einzuschreiten, wagt er es
    noch nicht, wohl aber will er mich Ihrem, dem Urteil eines an-
    gesehenen Fremden aussetzen. Seine Berechnung ist sorgfältig;
    Sie sind den zweiten Tag auf der Insel, Sie kannten den alten
    Kommandanten und seinen Gedankenkreis nicht, Sie sind in
    europäischen Anschauungen befangen, vielleicht sind Sie ein
    grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe im allgemeinen und
    einer derartigen maschinellen Hinrichtungsart im besonderen,
    Sie sehen überdies, wie die Hinrichtung ohne öffentliche Anteil-
    nahme, traurig, auf einer bereits etwas beschädigten Maschine
    vor sich geht — wäre es nun, alles dieses zusammengenommen
    (so denkt der Kommandant), nicht sehr leicht möglich, daß Sie
    mein Verfahren nicht für richtig halten? Und wenn Sie es nicht
    für richtig halten, werden Sie dies (ich rede noch immer im Sin-
    ne des Kommandanten) nicht verschweigen, denn Sie vertrau-
    en doch gewiß Ihren vielerprobten Überzeugungen. Sie haben
    allerdings viele Eigentümlichkeiten vieler Völker gesehen und
    achten gelernt, Sie werden daher wahrscheinlich sich nicht mit
    ganzer Kraft, wie Sie es vielleicht in Ihrer Heimat tun würden,
    gegen das Verfahren aussprechen. Aber dessen bedarf der Kom-
    mandant gar nicht. Ein flüchtiges, ein bloß unvorsichtiges Wort
    genügt. Es muß gar nicht Ihrer Überzeugung entsprechen, wenn
    es nur scheinbar seinem Wunsche entgegenkommt. Daß er Sie
    mit aller Schlauheit ausfragen wird, dessen bin ich gewiß. Und
    seine Damen werden im Kreis herumsitzen und die Ohren spit-
    zen; Sie werden etwa sagen: ›Bei uns ist das Gerichtsverfahren
    ein anderes‹, oder ›Bei uns wird der Angeklagte vor dem Urteil
    verhört‹, oder ›Bei uns gibt es auch andere Strafen als Todesstra-
    fen‹, oder ›Bei uns gab es Folterungen nur im Mittelalter‹. Das
    alles sind Bemerkungen, die ebenso richtig sind, als sie Ihnen
    selbstverständlich erscheinen, unschuldige Bemerkungen, die
    mein Verfahren nicht antasten. Aber wie wird sie der Kom-
    mandant aufnehmen? Ich sehe ihn, den guten Kommandanten,
    wie er sofort den Stuhl beiseite schiebt und auf den Balkon eilt,
    ich sehe seine Damen, wie sie ihm nachströmen, ich höre seine
    Stimme — die Damen nennen sie eine Donnerstimme —, nun,
    und er spricht: ›Ein großer Forscher des Abendlandes, dazu be-
    stimmt, das Gerichtsverfahren in allen Ländern zu überprüfen,
    hat eben gesagt, daß unser Verfahren nach altem Brauch ein un-
    menschliches ist. Nach diesem Urteil einer solchen Persönlich-
    keit ist es mir natürlich nicht mehr möglich, dieses Verfahren zu
    dulden. Mit dem heutigen Tage also ordne ich an — und so wei-
    ter.‹ Sie wollen eingreifen, Sie haben nicht das gesagt, was er ver-
    kündet, Sie haben mein Verfahren nicht unmenschlich genannt,
    im Gegenteil, Ihrer tiefen Einsicht entsprechend, halten Sie es
    für das menschlichste und menschenwürdigste, Sie bewundern
    auch diese Maschinerie — aber es ist zu spät; Sie kommen gar
    nicht auf den Balkon, der schon voll Damen ist; Sie wollen sich
    bemerkbar machen; Sie wollen schreien; aber eine Damenhand
    hält Ihnen den Mund zu — und ich und das Werk des alten
    Kommandanten sind verloren.«
    Der Reisende mußte ein Lächeln

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