In der Südsee
Widerstreit geraten, und ich glaube, man findet Spuren dieser zwiespältigen Empfindungen in der tahitischen Brüderschaft des Oro. Einst wurde ein neuer Gott dem Olymp der Gesellschaftsinseln zugeführt oder ein früherer ausgegraben und populär gemacht. Oro war sein Name, und man kann ihn mit dem Bacchus der Alten vergleichen. Seine Anhänger segelten von Bucht zu Bucht und von Insel zu Insel, sie wurden überall mit Festgelagen empfangen, trugen feine Kleider, sangen, tanzten und spielten, zeigten ihre Gewandtheit und Kraft und waren die Künstler, Akrobaten, Barden und Dirnen der Gruppe. Ihr Leben war öffentlich und epikureisch, ihr Ursprung ein Geheimnis, und die Angesehensten des Landes bemühten sich um Aufnahme in die Bruderschaft. Wenn ein Ehepaar die nächste Erbberechtigung besaß für die Würde der Oberherrschaft, durfte es aus politischen Gründen ein Kind verschonen; alle anderen Kinder, deren Vater oder Mutter der Gesellschaft des Oro angehörte, waren vom Augenblick der Empfängnis an zum Tode verurteilt. Eine Art Freimaurerloge, eine geheimnisvolle Sekte, eine Gesellschaft von Künstlern, alle Mitglieder eidlich verpflichtet, Unzucht zu verbreiten, und alle unter dem Verbot, Nachkommen zu hinterlassen: ich weiß nicht, welchen Eindruck alles das auf andere macht, aber mir erscheint der Zweck klar. Hungersnot bedrohte die Inseln, das notwendige Gegenmittel war verhaßt, und so wurde es dem Eingeborenengemüt durch den Reiz des Geheimnisvollen, der Lustbarkeiten und der Schaustellung nähergebracht. Das wird noch wahrscheinlicher und der geheime, ernste Zweck der Institution noch deutlicher,wenn es wahr ist, daß nach einer gewissen Lebenszeit die Verpflichtung des Gelübdes geändert wurde: zuerst Ausschweifung, dann Keuschheit.
Hier haben wir also die eine Seite des Problems klar vor uns: Kannibalismus unter liebenswürdigen Menschen, Kindermord unter Kinderliebhabern, Fleiß unter geborenen Faulenzern, Erfindungsgabe unter Menschen, die dem Fortschritt abgeneigt sind, eine Art schrecklicher heidnischer Heilsarmee der Bruderschaft des Oro, die Berichte früherer Reisender, weit verstreute Reste älterer Wohnstätten, zusammen mit der allgemeinen Überlieferung der Insulaner: alles das deutet auf dieselbe Tatsache hin: Übervölkerung und Erregung darüber in früheren Zeiten. Und heute sehen wir das Gegenteil, heute finden wir dasselbe Volk auf den Marquesas, den acht Inseln von Hawaii, in Mangareva und auf der Osterinsel dahinsterben wie die Fliegen. Woher diese Veränderung? Wollte man das Eindringen der Weißen, den Wechsel der Sitten und die Einschleppung neuer Krankheiten und Laster für die Entvölkerung verantwortlich machen: warum ist diese Entvölkerung nicht allgemein? Die Einwohnerzahl von Tahiti ist, nach einer Periode erschreckender Abnahme, wieder stabil geworden. Ich höre von ähnlichen Tatsachen bei einigen Maoristämmen, auf vielen Paumotuinseln kann man eine leichte Zunahme feststellen, und die Samoaner sind heute ebenso gesund und mindestens ebenso fruchtbar wie vor den großen Veränderungen. Zugegeben, daß die Tahitier, Maoris und Paumotuaner sich an die neuen Zustände gewöhnt haben mögen: wie will man dann erklären, daß die Samoaner niemals darunter gelitten haben?
Wer nur eine einzige Inselgruppe kennt, ist geneigt, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. So schrieb man, wie ich höre, die größere Sterblichkeit der Maoris dem Wechsel der Wohnsitze zu, sie zogen von den befestigten Bergspitzen in die niedrig gelegenen marschigen Gegenden ihrer Pflanzungen. Wie einleuchtend! Und doch starben die Marquesaner aus in denselben Häusern, in denen sich ihre Vorfahren vermehrten. Oder man denke an das Opium. Die Marquesaner und Hawaiier sind diesem Laster am meisten verfallen, die Bevölkerung der einen Gruppe ist die zivilisierteste, die der andern die wildeste von Polynesien, und beide siechen am raschesten dahin. Dringende Verdachtsmomente gegen das Opium! Aber nehmen wir die Unzucht: wieder bestätigen die Verhältnisse bei den Marquesanern und auf Hawaii die Vermutung. So sind die Samoaner zum Beispiel die keuschesten Polynesier, und sie sind heute durchaus fruchtbar; die Marquesaner leben am ausschweifendsten, und wir haben gesehen, wie sie zugrunde gehen; die Hawaiier sind bekannt als sittenlos, und ihr Gebiet ist heute so schwach bewohnt wie eine Wüste. Die Beweise für die Theorie von der Unzucht sind also noch stärker, und doch erfahren sie eine Korrektur. Was immer
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