In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
sein, dass sie sich nach all der Zeit so schlecht kennen?
Sie schweigt, denkt nach, und dann, so als hätte sie einen dringenden Auftrag vergessen, beugt sie sich vor und fragt den Fahrer: »Woher wissen Sie, dass es ein Unfall mit einem Pferd ist?«
Trotz seiner Gereiztheit kann Peter die Fähigkeit der Frauen bewundern, Männern direkte Fragen zu stellen, ohne dass es so wirkt, als wollten sie einen Streit anzetteln.
»Anruf von der Zentrale«, sagt der Fahrer und deutet auf seinen Ohrhörer. Sein kahler Kopf sitzt erhaben auf dem braunen Sockel seines Halses. Er hat natürlich seine eigene Geschichte, und die hat mit einem gut gekleideten Paar mittleren Alters im Fond seines Taxis überhaupt nichts zu tun. Sein Name ist dem Schild an der Rückseite des Vordersitzes zufolge Rana Saleem. Ein Inder? Iraner? Er hätte dort, wo er herkommt, ein Arzt gewesen sein können. Oder ein Arbeiter. Oder ein Dieb. Man kann nie wissen.
Rebecca nickt, lehnt sich wieder zurück. »Ich denke eher an andere Grenzen«, sagt sie.
»Was für welche?«
»Er kann sich nicht ewig auf andere verlassen. Und, du weißt schon.Wir machen uns immer noch Sorgen wegen der anderen Sache.«
»Meinst du, seine große Schwester kann ihm dabei helfen?«
Sie schließt die Augen, ist jetzt eingeschnappt, jetzt , als er mitfühlend sein wollte.
»Ich meine damit«, sagt Peter, »nun ja. Du kannst ihm vermutlich nicht dabei helfen, sein Leben zu ändern, wenn er es nicht von sich aus will. Ich meine, ein Drogenabhängiger ist irgendwie unberechenbar.«
Sie lässt die Augen geschlossen. »Er war ein ganzes Jahr clean. Wann hören wir endlich auf, ihn als Drogenabhängigen zu bezeichnen?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir das jemals tun.«
Wird er allmählich scheinheilig? Faselt er einfach Zwölf-Stufen-Platitüden daher, die er weiß Gott wo aufgeschnappt hat?
Das Problem mit der Wahrheit ist, dass sie so oft lau und klischeebehaftet ist.
Sie sagt: »Vielleicht ist er bereit für eine gewisse Stabilität im Leben.«
Ja, vielleicht. Missy hat ihnen per E-Mail mitgeteilt, dass er beschlossen hat, »irgendetwas mit Kunst« machen zu wollen. Das wäre dann Irgendetwas mit Kunst, eine Beschäftigung ohne triftigen Grund, ohne Vorsätze. Spielt keine Rolle. Die Menschen (manche Menschen) sind froh, wenn Missy überhaupt irgendwelche sinnvollen Neigungen äußert.
Peter sagt: »Dann werden wir tun, was wir können, um ihm eine gewisse Stabilität zu geben.«
Rebecca drückt liebevoll sein Knie. Er ist brav gewesen.
Hinter ihnen hupt jemand. Was genau glaubt er damit bewirken zu können?
»Vielleicht sollten wir hier aussteigen und die U-Bahn nehmen«, sagt sie.
»Wir haben so eine perfekte Entschuldigung dafür, dass wir zu spät kommen.«
»Meinst du, das heißt, dass wir lange bleiben müssen?«
»Auf keinen Fall. Ich verspreche dir, dass ich dich loseise, bevor Mike so betrunken ist, dass er anfängt, dich anzubaggern.«
»Das wäre zauberhaft.«
Schließlich kommen sie zur Ecke Eighth Avenue und Central Park South, wo die Überreste des Unfalls noch nicht ganz beseitigt sind. Dort, hinter Warnleuchten und tragbaren Absperrpfosten, hinter den beiden Polizisten, die den Verkehr zum Columbus Circle umleiten, ist das beschädigte Auto, ein weißer Mercedes, der schräg auf der Fifty-ninth Street steht und im Schein der Warnlichter rosa schimmert. Dort muss der Leichnam des Pferdes sein, mit einer schwarzen Plane bedeckt. Unter der Plane, teerartig und schwer, zeichnet sich das Hinterteil des Pferdes ab. Der übrige Körper könnte irgendetwas sein.
»Mein Gott«, flüstert Rebecca.
Peter weiß: Jeder Unfall, jede Erinnerung daran, dass einem auf dieser Welt etwas zustoßen kann, versetzt sie, versetzt sie beide kurz in Panik – wegen Bea. Ist sie irgendwie nach New York gekommen, ohne ihnen Bescheid zu sagen? Könnte sie womöglich mit einer Pferdekutsche gefahren sein, obwohl sie so etwas nie tun würde?
Die Elternschaft, so scheint es, macht einen ein Leben lang nervös. Selbst wenn die Tochter zwanzig ist und voller fröhlicher, undurchdringlicher Wut und es ihr in Boston, 240 Meilen entfernt, nicht ganz so gut geht.Vor allem dann.
Er sagt: »Man denkt nie daran, dass diese Pferde von Autos erfasst werden können. Man denkt kaum daran, dass sie Tiere sind.«
»Es gibt sogar eine … Bewegung. Gegen die Art und Weise, wie diese Pferde behandelt werden.«
Natürlich. Rana Saleem hier fährt ein Nachttaxi. Auf den Straßen sind
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