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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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ist zudem ein erfahrener Bergsteiger, der seinen drei Söhnen schon früh das Klettern beibrachte. John, der Zweitälteste, war dreizehn, als er zum erstenmal einen Felsen erklomm.
    Er war ein Naturtalent. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit zog er zu einer Bergtour hinaus, und wenn er nicht klettern konnte, trainierte er wie ein Besessener. Er legte vierhundert Liegestützen pro Tag hin und ging zweieinhalb Meilen im Eilschritt zur Schule. Wenn er nachmittags wieder zu Hause ankam, tippte er kurz die Haustüre an und kehrte zur Schule zurück, um eine zweite Runde zu drehen.
    Mit sechzehn Jahren - 1969 - bestieg er den Mount McKinley (den er Mount Denali nannte; wie die meisten Alaskaner gab er dem athabaskischen Namen des Gipfels den Vorzug) und wurde damit der drittjüngste Mensch, der den höchsten Gipfel des Kontinents bezwang. In den folgenden Jahren brachte er sogar noch eindrucksvollere Besteigungen zuwege, sowohl in Alaska und Kanada als auch in Europa. Als er schließlich 1973 nach Fairbanks zog und sich an der Universität von Alaska einschrieb, galt Waterman als einer der vielversprechendsten jungen Alpinisten Nordamerikas.
    Waterman war kleinwüchsig und maß nur knapp über einsfünfzig. Er hatte zarte, elfenhafte Gesichtszüge und den kräftigen, sehnigen Körperbau eines Geräteturners. Die, die ihn kannten, haben ihn als ein unbeholfenes ewiges Kind in Erinnerung, mit ausgefallenem Humor und einer nervösen, beinahe manisch - depressiven Persönlichkeit.
    »Als ich John kennenlernte«, erzählt James Brady, ein Bergsteiger kamer ad und Studienfreund, »lief er immer in einem langen, schwarzen Umhang und so einer blauen Elton - John - Brille mit einem Stern zwischen den Gläsern in der Uni herum. Und dann hat er ständig so eine billige Gitarre dabeigehabt, die total zerschunden und überall mit Kreppband geflickt war. Bei jeder Gelegenheit hat er in die Saiten gegriffen und einem mit seiner schrägen Stimme was vorgesungen, meistens ein endlos langes Ständchen über seine Abenteuer. Fairbanks hat schon immer die seltsamsten Typen angezogen, aber er war schon eine Nummer für sich, selbst nach Fairbanks - Maßstäben. Ja, klar, John hatte ganz schön einen weg. Die Leute wußten wirklich nicht, was sie von ihm halten sollten.«
    Plausible Gründe für Watermans Labilität gab es zuhauf. Als er noch ein Teenager war, ließen seine Eltern sich scheiden. Seine Mutter litt lange Zeit unter schweren psychischen Störungen. Johns älterer Bruder Bill, an dem er sehr hing, verlor als Jugendlicher bei dem Versuch, auf einen Güterzug aufzuspringen, ein Bein.
    1973 verschickte Bill einen rätselhaften Brief, in dem er vage von einer großen Reise sprach. Er verschwand spurlos, und bis zum heutigen Tag weiß niemand, was aus ihm geworden ist. Und seit John sich der Bergsteigerei verschrieben hatte, kamen acht seiner besten Freunde und Bergsteigerkameraden bei Unfällen um oder begingen Selbstmord. Es ist also nur allzu begreiflich, wenn Watermans junge Psyche durch diese lange Kette von Unglücksfällen einen schweren Knacks abbekam.
    Im März 1978 brach Waterman zu seinem aufsehenerregendsten Unternehmen auf, einer Alleinbesteigung der vorspringenden Südostwand des Mount Hunter, eine bis dahin unbezwungene Route, an der bereits drei Teams aus Elite - Alpinisten gescheitert waren. Der Journalist Glenn Randall berichtete über das Bravourstück in der Zeitschrift Climbing. Waterman habe auf seiner Besteigung drei Gefährten gehabt, die er als »den Wind, den Schnee und den Tod« beschrieben habe.
    Gesteinsvorsprünge so zart und luftig wie Sahnebaisers ragten über kilometertiefen Abgründen hervor. Die senkrechten Eiswände waren so spröde wie ein halbaufgetauter und ins Gefrierfach zurück gestellter Kübel mit Eiswürfeln. Sie führten zu Bergkämmen hinauf, die dermaßen schmal waren und zu beiden Seiten so steil abfielen, daß er sich über sie nur rittlings hinwegschieben konnte. In manchen Augenblicken brachen Schmerz und Einsamkeit mit solcher Übermacht über ihn herein, daß er nur noch weinen konnte.
    Nach einundachtzig Tagen unter strapaziösen, extrem gefährlichen Bedingungen erreichte Waterman den 4400 Meter hohen Gipfel des Hunter. Der Berg liegt in der Alaska Range und schließt sich unmittelbar südlich an den Denali an. Der riskante Abstieg nahm weitere neun Wochen in Anspruch. Insgesamt verbrachte Waterman einhundertfünfundvierzig Tage allein auf dem Berg. Nach seiner Rückkehr in die

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