In die Wildnis
Landzipfel Alaskas. 1977 landete er in Cordova. Dort, im Wald am Rande des Dorfes, beschloß er, sein Leben einem ehrgeizigen, anthropologischen Experiment zu widmen.
»Ich wollte herausfinden, ob es möglich ist, ohne Hilfe der modernen Technik auszukommen«, diktierte er ein Jahrzehnt nach seiner Ankunft in Cordova einer Reporterin der Anchorage Daily News, Debra McKinney, ins Mikrofon. Er fragte sich, ob der Mensch dazu in der Lage war, so zu leben wie unsere Ahnen, als noch Mammuts und Tiger mit säbelgroßen Hauern die Lande durchstreiften, oder ob unsere Spezies sich zu weit von ihren Wurzeln entfernt hatte, um ohne Schießpulver, Stahl und andere zvilisatorische Errungenschaften zu überleben. Mit besessener Akribie, wie sie verkannten Genies von seinem Schlage eigen ist, verbannte Rosellini selbst die primitivsten Werkzeuge aus seinem Leben, es sei denn, er hatte sie eigenhändig aus Naturmaterialien hergestellt.
»Er war zu der Überzeugung gelangt, daß der Mensch sich zunehmend zum minderwertigen Wesen degeneriert«, führt McKinney aus, »und es war sein erklärtes Ziel, zu einem natürlichen Dasein zurückzukehren. Er experimentierte ständig mit verschiedenen Zeitaltern - dem Zeitalter der Römer, der Eisenzeit, der Bronzezeit. Am Ende zeigte seine Lebensweise Elemente der Jungsteinzeit auf.«
Er ernährte sich von Wurzeln, Beeren und Seetang. Wild erlegte er mit Speeren und Schlingen. Auch den allerhärtesten Winter ertrug er nur mit Lumpen bekleidet. Offenbar genoß er die Entbehrungen, denen er sich aussetzte. Sein Haus oberhalb der Hippie Cove war eine fensterlose Bruchbude, die er ohne Säge und Axt erbaut hatte. »Er hat ganze Tage damit verbracht«, erzählt McKinney, »einen Baumstamm mit einem scharfkantigen Stein entzweizumahlen.«
Und als ob das Leben nach seinen selbstauferlegten Regeln nicht schon beschwerlich genug wäre, legte Rosellini, wann immer die Futtersuche ihm dazu Zeit ließ, eine Runde Leibesübungen ein. Er füllte seine Tage mit Gymnastik, Gewichtheben und Joggen aus, häufig trug Rosellini dabei auch noch einen Sack voll Steine auf dem Rücken. Im Laufe eines typischen Sommers legte er durchschnittlich achtzehn Meilen pro Tag zurück, wie er erzählte.
Rosellinis »Experiment« zog sich weit über ein Jahrzehnt hin, aber irgendwann hatte er das Gefühl, daß die große, ihn bewegende Frage beantwortet war. In einem Brief an einen Freund schrieb er:
Ich trat mein Erwachsenenleben mit der Hypothese an, daß es möglich sei, ein Steinzeitmensch zu werden. Über dreißig Jahre lang programmierte ich mich und übte mich darin, dieses Ziel zu erreichen. Ich glaube mit Fug und Recht von mir behaupten zu können, in den letzten zehn Jahren die physische, mentale und emotionale Realität der Steinzeit hautnah erlebt zu haben. Aber, wie die Buddhisten zu sagen pflegen, am Ende steht der Mensch Auge in Auge mit der nackten Realität. Ich mußte erkennen, daß es dem Menschen so, wie wir ihn kennen, nicht möglich ist, nur von dem zu leben, was die Natur uns schenkt.
Rosellini schien es nicht weiter zu stören, daß seine Hypothese sich als falsch erwiesen hatte. Im Alter von neunundvierzig Jahren verkündete er, daß er seine Ziele »umgestaltet« habe. Er wolle nun »nur mit einem Rucksack bepackt einmal rund um die Welt wandern. Ich möchte pro Tag achtzehn bis siebenundzwanzig Meilen zurücklegen, sieben Tage die Woche, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr.«
Die Weltumwanderung fand niemals statt. Im November 1991 wurde Rosellini mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden seiner Hütte entdeckt. Aus seiner Brust stak ein Messer. Die Obduktion ergab, daß der Tote sich die Wunde selbst zugefügt hatte. Es gab keinen Abschiedsbrief. Rosellini hinterließ keinen Hinweis darauf, warum er beschlossen hatte, seinem Leben zu diesem Zeitpunkt und auf diese Art ein Ende zu setzen. Wir werden es wohl nie erfahren.
Rosellinis Tod und die Geschichte seines sonderbaren Lebens gelangten auf die Titelseite der Anchorage Daily News. Die Mühen des John Mallon Waterman erregten dagegen weit weniger Aufsehen. Watermann, Jahrgang 1952, wuchs in den gleichen Washingtoner Vororten auf, die auch Chris McCandless geprägt haben. Sein Vater ist Musiker und freier Schriftsteller, der - neben anderen Verdiensten, die ihn zum Anwärter auf ein bescheidenes Maß an Berühmtheit machen - Reden für Präsidenten, Ex - Präsidenten und andere prominente Politiker Washingtons verfaßte. Waterman senior
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