In die Wildnis
wenige der Briefe gingen mit dem jungen Traveler hart ins Gericht - und auch mit mir, dem Autor der Story, dem vorgeworfen wurde, einen Tod zu verherrlichen, den man für dumm und sinnlos hielt.
Viele der ablehnenden Briefe stammten von Alaskanern. »Alex ist für mich ein Verrückter, wie er im Buche steht«, schrieb ein Einwohner von Healy, dem kleinen Städtchen am Anfang des Stampede Trail. »Der Autor beschreibt einen Mann, der ein kleines Vermögen verschenkt, seine ihn aufrichtig liebende Familie im Stich läßt, einen Mann, der seinen Wagen, seine Uhr und seine Landkarte achtlos zurückläßt, der sein letztes Geld verbrennt, und das alles nur, um westlich von Healy in die ›Wildnis‹ zu latschen.«
»Ich persönlich kann weder an Chris McCandless' Art zu leben noch an seiner Wildnis - Doktrin etwas Positives finden«, schimpfte ein anderer Leser. »Absichtlich schlecht vorbereitet in die Wildnis aufzubrechen und eine todesähnliche Erfahrung zu überstehen macht einen nicht zum besseren Menschen. Es bedeutet nur, daß man verdammt viel Schwein gehabt hat.«
Ein Leser von Outside fragte sich, wie es möglich ist, »daß jemand, der vorhat, ›ein paar Monate lang von dem, was das Land so hergibt‹, zu leben, die allererste Pfadfinderregel vergißt: Sei für alles gerüstet. Wie kann ein Sohn seinen Eltern und seiner Familie einen so tiefen, bleibenden Schmerz zufügen?«
»Krakauer muß ganz schön spinnen, wenn er nicht kapiert, daß Chris ›Alexander Supertramp‹ der größte Spinner aller Zeiten ist«, meint ein Mann aus North Pole, Alaska. »McCandless hatte schon lange jede Menge Schrauben locker, und die sind ihm in Alaska eben zum Verhängnis geworden.«
Die schärfste Kritik traf in Form einer seitenlangen dichtbeschriebenen Epistel aus Ambler ein, einer winzigen Eskimosiedlung am Kobruk River nördlich des Polarkreises. Der Autor des Briefes war Weißer, stammte ursprünglich aus Washington D.C. und hieß Nick Jans. Jans, Schriftsteller und Schullehrer von Beruf, schickte warnend voraus, daß es bereits ein Uhr nachts sei und die Flasche Seagram's so gut wie leer. Dann machte er seinem Ärger Luft:
In den letzten fünfzehn Jahren sind mir hier draußen mehr als nur ein McCandless über den Weg gelaufen. Immer das gleiche: idealistische, energiegeladene Jungs, die ihre Kräfte über und die der Natur unterschätzen, und ehe sie sich's versehen, stecken sie bis zum Hals in Schwierigkeiten. McCandless ist wahrlich kein Einzelfall. Von diesen Typen hängen jede Menge bei uns herum. Sie sind einander zum Verwechseln ähnlich und schon beinahe zu einem allgemeinen Klischee geworden. Der einzige Unterschied besteht darin, daß McCandless am Ende mit dem Leben zahlte und seine Blödheit in sämtlichen Gazetten Verbreitung fand ...(In »Feuer im Schnee« hat Jack London all dies sehr treffend beschrieben. McCandless ist letztlich nichts weiter als eine blasse, zeitgenössische Parodie auf Londons Protagonisten, der erfriert, weil er jeglichen Ratschlag in den Wind schlägt und Opfer seiner eigenen Selbstüberschätzung wird)...
Was McCandless umgebracht hat, ist seine Ignoranz, der er ohne weiteres durch eine Geländekarte und das allgemeine Pfadfinderhandbuch hätte abhelfen können, für seine Eltern tut es mir leid, für ihn jedoch kann ich kein Mitgefühl aufbringen. Ein solches Ausmaß an vorsätzlicher Ignoranz... läuft auf schiere Respektlosigkeit gegenüber der Natur hinaus, und paradoxerweise liegt ihr die gleiche Art von Arroganz zugrunde, die zu dem Tankerunglück der Exxon Valdez führte - noch so ein Fall von überheblichen und völlig unzureichend vorbereiteten Männern, die vor sich hin wursteln und vor allem deshalb versagten, weil ihnen die nötige Demut fehlte. Der Unterschied zu McCandless ist rein quantitativ.
McCandless' aufgesetztes Asketentum und seine pseudoliterarische Geisteshaltung verschlimmern all diese Unzulänglichkeiten nur, statt sie zu mindern ... McCandless' Postkarten, Notizen und Tagebücher... lesen sich wie die Ergüsse eines überdurchschnittlich begabten, ein wenig zur Theatralik neigenden Schuljungen - oder habe ich da was mißverstanden?
In Alaska ist man also allgemein der Überzeugung, daß McCandless lediglich ein verträumtes, halbstarkes Greenhorn mehr war, das in der Hoffnung, Antworten auf seine Probleme zu finden, in die Wälder gezogen war. Gefunden hatte er statt dessen aber Moskitos und einen einsamen Tod. Über die Jahre gab es Dutzende von
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