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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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auf dem Kasten zu haben. Aber er hatte auch eine Seite, die verträumt und weltfremd war. Und dann hat er auch was Schillerndes an sich gehabt, war auf Partys immer der letzte, der ging. Man konnte sich zwar absolut auf ihn verlassen, aber er hat die Sachen gerne aus dem Handgelenk geschüttelt und sich auf seine forsche Art verlassen. Nein, genaugenommen überrascht es mich gar nicht, daß Carl rausgezogen ist und vergessen hat, den Rückflug klarzumachen. Aber, ehrlich gesagt, überrascht mich kaum noch was. Mehrere meiner Freunde sind ertrunken oder ermordet worden oder durch merkwürdige Unfälle ums Leben gekommen. In Alaska gewöhnt man sich an die seltsamsten Dinge.«
    Ende August, als die Tage kürzer wurden und die Luft in den Bergen der Brooks Range immer schneidender und herbstlicher, regten sich in McCunn allmählich Zweifel. Kein Flugzeug weit und breit in Sicht. »Vielleicht hätte ich doch besser vorausplanen und meinen Rückflug definitiv klarmachen sollen«, vertraute er seinem Tagebuch an, von dem größere Abschnitte nach seinem Tode in einer fünfteiligen Serie von Kris Capps im Fairbanks Daily News Miner veröffentlicht wurden. »Es wird sich ja bald zeigen.«
    Mit jeder Woche, die verging, spürte er den nahenden Winter. Als seine Nahrungsvorräte langsam zur Neige gingen, bereute McCunn bitterlich, daß er seine Schrotpatronen bis auf ein restliches Dutzend in den See geworfen hatte. »Ich muß ständig an die ganze Schrotmunition denken, die ich vor zwei Monaten weggeworfen habe«, schreibt er. »Hatte fünf Schachteln, und als ich sie immer so vor mir liegen sah, kam ich mir ziemlich albern vor, daß ich soviel mitgeschleppt habe. (Kam mir wie ein Waffenhändler vor.)... Toller Schachzug. Wer hätte gedacht, daß ich sie eines Tages fürs nackte Überleben brauchen würde.«
    Dann, an einem frischen Septembermorgen, schien die Rettung nahe. McCunn war mit seinen letzten Patronen auf Entenjagd gegangen. Plötzlich wurde die Stille von dem Brummen eines Flugzeugs durchbrochen, das bald darauf direkt über ihm erschien. Der Pilot entdeckte McCunns Lager und umkreiste es zweimal im Tiefflug, offensichtlich, um es sich genauer anzusehen. McCunn winkte und wedelte aufgeregt mit einem fluoreszierenden, orangefarbigen Schlafsacküberzug. Die Maschine hatte Räder und kein Schwimmgestell und konnte daher nicht landen. Aber McCunn zweifelte keinen Augenblick daran, gesichtet worden zu sein, und war überzeugt, daß man nun ein Wasserflugzeug nach ihm aussenden würde. Er war so sicher, schrieb er in sein Tagebuch, daß »ich, nachdem die Maschine mich das erste Mal überflogen hatte, aufhörte zu winken. Gleich darauf räumte ich meine Sachen zusammen und bereitete alles für den Aufbruch vor.«
    Doch an jenem Tag sollte sich kein Flugzeug mehr blicken lassen, und auch an den folgenden Tagen nicht. Als er sich dann später einmal zufällig die Rückseite seiner Jagdlizenz ansah, wurde ihm schlagartig klar, warum. Auf dem kleinen, viereckigen Stück Papier waren die Bodensignale zur Verständigung mit Flugzeugen abgebildet.
    »Soweit ich weiß, hatte ich die rechte Hand etwa in Schulterhöhe gehoben, und als mich die Maschine das zweite Mal überflog, reckte ich ihr die geballte Faust entgegen«, schrieb McCunn. »Als Zeichen des Jubels - wie beim Football, wenn dein Team einen Touchdown oder so was erzielt.« Unglücklicherweise ist jedoch, wie er nun zu spät entdeckte, ein einzelner erhobener Arm das weltweit gültige Zeichen für »Alles O.K., keine Hilfe nötig.« Das Signal für »SOS, sofort Hilfe schicken« dagegen sind zwei erhobene Arme.
    »Das wird wohl der Grund dafür sein, daß die Leute, als sie praktisch schon davongeflogen waren, wieder zurückgekehrt sind, um wirklich sicherzugehen. Aber da habe ich überhaupt nichts mehr signalisiert (wenn ich mich recht erinnere, hatte ich mich sogar bereits umgedreht)«, sinnierte McCunn gleichmütig. »Wahrscheinlich haben sie mich als Verrückten abgeschrieben.«
    Ende September war der See zugefroren, und die Tundra verschwand unter einer dicken Schneeschicht. Die Vorräte schrumpften weiter, und er machte sich nun daran, Hagebutten zu sammeln und Hasenfallen aufzustellen. Einmal hatte er Glück. Ein krankes Karibu war in den See gewandert und gestorben. Er zog das Tier an Land und schlachtete es aus. Spätestens im Oktober jedoch waren die Fettreserven seines Körpers so gut wie aufgezehrt, und er schaffte es kaum mehr, sich während der langen,

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