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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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von mir die Eisschicht vom Fels. Ich hakte die Spitze meines linken Eispickels an einem pfennigbreiten Vorsprung im Fels ein und testete mit meinem Gewicht die Festigkeit. Es hielt. Ich zog meinen rechten Pickel aus dem Eis, streckte mich und wand den Pickel in eine gekrümmte, knapp zwei Zentimeter tiefe Ritze hinein, bis er feststak. Ich wagte kaum zu atmen, zog meine Füße hoch, scharrte mit meinen Steigeisen über das glasige Eis. Ich langte mit dem linken Arm so hoch, wie ich konnte, und stach mit sanftem Schwung in die milchig schimmernde Oberfläche. Ich hatte keine Ahnung, was meinen Eispickel dort erwartete. Ich hörte ein kräftiges »Schschupp«, und der Pickel stak fest! Ein paar Minuten später stand ich auf einem breiten Felsvorsprung. Der eigentliche Gipfel, ein schmaler Felsgrat, dessen grotesk geformte Eisschicht an Schaumgebäck erinnerte, lag nur fünf, sechs Meter über mir.
    Die weiche, trügerische Rauhfrostschicht sorgte dafür, daß auch jene letzten Meter strapaziöse, nervenaufreibende Kletterarbeit blieben. Doch plötzlich ging es nicht mehr höher. Ich spürte, wie meine aufgesprungenen Lippen sich zu einem schmerzhaften Grinsen weiteten. Ich stand auf dem Gipfel des Devils Thumb.
    Auch hier oben blieb der Berg sich treu: Der Gipfel war ein surrealer, feindseliger Ort, ein furchterregend schmaler Keil aus Felsgestein und Anreim, nicht breiter als ein Aktenschrank. Er lud keineswegs zum Verweilen ein. Ich setzte mich rittlings auf den höchsten Punkt. Unter meinem rechten Schuh brach die Südwand in einen achthundert Meter tiefen Abgrund weg; unter meinem linken Schuh fiel die Nordwand etwa doppelt so tief. Ich machte ein paar Fotos zum Beweis, daß ich wirklich dort war, und bemühte mich noch ein paar Minuten lang, einen verbogenen Eispickel zu richten. Dann stand ich auf, drehte mich vorsichtig um und machte mich auf den Heimweg.
    Eine Woche später kampierte ich an der Küste. Es regnete in Strömen, und ich gab mich staunend dem Anblick von Moos, Weidenbäumen und Moskitos hin. Die salzgeschwängerte Luft stank nach dem Formenreichtum des Meeres. Ein kleines Skiff kam in die Thomas - Bucht getuckert und legte nicht weit von meinem Zelt am Strand an. Der Mann auf dem Boot war ein Holzfäller aus Petersburg. Er hieß Jim Freeman und erzählte mir, es sei sein freier Tag und er sei hierhergefahren, um seiner Familie den Gletscher zu zeigen und nach Bären zu suchen. Er fragte mich, ob ich »jagen war oder was?«
    »Nein«, erwiderte ich verlegen. »Ich habe gerade den Devils Thumb bestiegen. Ich bin schon seit zwanzig Tagen hier draußen.«
    Freeman fummelte an einer Klampe herum und sagte nichts. Es war offensichtlich, daß er mir nicht glaubte. Außerdem behagten ihm weder mein zerzaustes, schulterlanges Haar noch der Gestank, den ich verströmte. Ich hatte drei Wochen lang weder gebadet noch die Kleider gewechselt. Als ich ihn jedoch fragte, ob er mich in die Stadt mitnehmen könne, brummte er ein mißmutiges:
    »Warum nicht?«
    Das Wasser war bewegt, und die Fahrt durch den Frederick - Sund dauerte zwei Stunden. Wir unterhielten uns, und Freeman taute langsam auf. Er war zwar immer noch nicht gänzlich davon überzeugt, daß ich den Devils Thumb bestiegen hatte, aber als er das Skiff schließlich durch die Wrangell - Meerenge manövrierte, tat er zumindest so. Nachdem er am Kai angelegt und das Boot vertaut hatte, bestand er darauf, mir einen Cheeseburger zu kaufen. Es war Abend geworden, und er bot mir an, in einem ausrangierten Lieferwagen im Garten hinter seinem Haus zu übernachten.
    Ich legte mich eine Weile lang hinten in die alte Kiste, konnte aber nicht einschlafen. Ich stand auf und ging in eine Bar, die sich Kito's Kave nannte. Die Euphorie, das überwältigende Gefühl der Erleichterung, das mich bei meiner Rückkehr nach Petersburg begleitet hatte, klang allmählich ab und machte einer merkwürdigen Melancholie Platz. Die Leute, mit denen ich mich in Kitos Laden unterhielt, schienen zwar nicht daran zu zweifeln, daß ich auf dem Gipfel des Devils Thumb gestanden hatte, aber es interessierte sie einfach nicht besonders. Als es später wurde, leerte sich der Laden und ich war allein, abgesehen von einem alten, zahnlosen Tlingit - Indianer an einem der hinteren Tische. Ich trank mutterseelenallein meinen Drink, fütterte die Jukebox mit Vierteldollar - Stücken und spielte immer wieder die gleichen fünf Songs. Schließlich rief das Barmädchen genervt: »Heh, Kleiner, jetzt

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