In die Wildnis
nahm sie wörtlich. Und dies war der Grund, weshalb ich später, als lang gehütete Familiengeheimnisse ans Licht kamen und ich merkte, daß diese Gottheit, die nur unbedingte Perfektion zufriedenstellte, selber alles andere als perfekt war, daß er in Wirklichkeit gar keine Gottheit war - tja, ich konnte dies nicht einfach so mit einem Achselzucken abtun. Im Gegenteil, ich verzehrte mich vor Wut. Die Erkenntnis, daß er bloß ein Mensch war, und zwar durch und durch, war zu grausam für mich, um zu verzeihen.
Zwei Jahrzehnte später merkte ich plötzlich, daß meine Wut verraucht war, und zwar seit Jahren. Sie hatte sich in Beklommenheit und Mitgefühl verwandelt, in etwas, das an Zuneigung rankam. Mir wurde klar, daß ich meinen Vater ebensosehr vor den Kopf gestoßen und zur Verzweiflung getrieben hatte wie er mich. Ich begriff, daß ich egoistisch und verbohrt und eine fürchterliche Nervensäge gewesen war. Er hatte mir eine Brücke der Privilegien gezimmert, einen in liebevoller Kleinarbeit gefertigten Steg in eine lebenswerte Zukunft, und ich revanchierte mich, indem ich den Steg niederhackte und auf die Trümmer schiß.
Aber diese Einsicht kam mir erst mit den Jahren und nach einer traurigen Wende im Leben unserer Familie. Die selbstzufriedene Existenz, die mein Vater geführt hatte, brach ihm unter den Füßen weg. Es begann mit seinem körperlichen Verfall: Dreißig Jahre nachdem er einen Anfall von Kinderlähmung überstanden hatte, flammten die Symptome völlig unerklärlicherweise wieder auf. Gelähmte Muskelgruppen verfielen weiter, Nervenverbindungen versagten ihren Dienst, verkrüppelte Beine gehorchten nicht mehr. Medizinischen Fachzeitschriften entnahm er, daß er an einer neu entdeckten Krankheit litt, dem sogenannten posterioren Polio - Syndrom. Schmerzen, die zeitweise von geradezu unerträglicher Heftigkeit waren, füllten seine Tage wie ein schrilles, anhaltendes Geräusch.
Um den Verfall aufzuhalten, ging er unklugerweise dazu über, sich selbst zu behandeln. Der kleine Kunstlederkoffer, der randvoll war mit Dutzenden von Pillendosen aus orangefarbenem Plastik, wurde sein ständiger Begleiter. Alle ein, zwei Stunden wühlte er in dem Medizinköfferchen herum, blickte kurz auf die Etiketten und schüttelte Dexedrin - , Percodan - , Prozac oder Deprenyltabletten heraus. Er schluckte die Tabletten gleich dutzendweise, mit schmerzverzerrter Grimasse, ohne Wasser. Auf dem Waschbecken im Badezimmer tauchten immer häufiger gebrauchte Spritzen und leere Ampullen auf. Sein Leben drehte sich in zunehmendem Maße um ein riesiges Arsenal an Medikamenten, die er sich selbst verabreichte: Steroide, Amphetamine, Anti - Depressiva und verschiedene Schmerzmittel. Die Medikamente verwirrten seinen einst so beeindruckenden Verstand.
Als sein Verhalten immer irrationaler und besessener wurde, wandten sich auch die letzten Freunde von ihm ab. Meiner Mutter, die sich ihrem Schicksal lange Zeit geduldig ergeben hatte, blieb schließlich keine andere Wahl mehr, als auszuziehen. Mein Vater überschritt die Grenze zum Wahnsinn. Beinahe wäre es ihm gelungen, sich das Leben zu nehmen - und er wußte dafür zu sorgen, daß dies in meiner Gegenwart geschah.
Nach dem Selbstmordversuch wurde er in eine psychiatrische Klinik in der Nähe von Portland eingeliefert. Als ich ihn dort besuchte, war er an Armen und Beinen ans Bett geschnallt. Er schimpfte unzusammenhängendes Zeug vor sich hin und hatte ins Bett defäkiert. Seine Augen wirkten irre. Erst trotzig aufflackernd, im nächsten Moment von unschuldigem Entsetzen erfüllt, rollten sie weit zurück und gaben einen bestürzend klaren Einblick in seine gequälte Seele. Als die Krankenschwestern versuchten, die Bettwäsche zu wechseln, zerrte er an seinen Fesseln und verfluchte sie, verfluchte mich und verfluchte sein Schicksal. Daß sein Lebensplan mit eingebauter Erfolgsgarantie ihn schließlich hierher, auf diese alptraumhafte Krankenstation, geführt hatte, war eine Ironie, an der ich keinen Gefallen finden konnte, die ihm jedoch völlig entging.
Es gab noch eine weitere ironische Wendung, die er nicht zu würdigen wußte: Seine unablässigen Bemühungen, mich nach seinem Bilde zu formen, waren letztendlich erfolgreich gewesen. Das alte Walroß hatte es tatsächlich geschafft, mir einen starken, brennenden Ehrgeiz einzutrichtern, der sich allerdings in Zielvorstellungen niederschlug, die nie auf seinem Plan gestanden hatten. Er begriff nie, daß der Devils Thumb
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