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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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mich je da hochbringen würde.
    Es gab jedoch eine Möglichkeit, die Expedition zu retten. Eine Woche zuvor hatte ich auf Skiern die Südostseite des Berges umkurvt, um mir die Abstiegsroute anzusehen, die ich nach der Bezwingung der Nordwand hatte nehmen wollen. Es war die Route, auf der Fred Beckey, der legendäre Alpinist, den Thumb 1946 zum ersten Mal bestiegen hatte. Auf meinem Erkundungsausflug war mir eine offensichtlich unbestiegene Längsachse des Berges, links von der Beckey - Route, aufgefallen - ein zerklüftetes Geflecht aus Eis, das die Südostwand umgab - , die mir zunächst als relativ einfacher Weg zum Gipfel erschienen war. Damals hielt ich diese Route jedoch für meiner unwürdig. Jetzt, nach meiner enttäuschend verlaufenen Liaison mit der Nordwand, war ich bereit, meine Ansprüche zurückzuschrauben.
    Als der Schneesturm sich am Nachmittag des 15. Mai schließlich gelegt hatte, kehrte ich an die Südostseite zurück und kletterte einen schmalen Grat hinauf, der dem Gipfel wie der Strebebogen einer gotischen Kathedrale vorsteht. Ich beschloß, dort, auf dem beengten Kamm sechshundert Meter unterhalb des Gipfels, die Nacht zu verbringen. Der Abendhimmel war von kaltem, wolkenlosem Glanz. Ich konnte bis an die Küste und weiter sehen. Als die Dämmerung hereinbrach, blickte ich nach Westen und beobachtete gebannt, wie in Petersburg Lichter erschimmerten. Seit dem Proviantabwurf war dies der erste Kontakt zu meinen Mitmenschen, wenn auch nur von weitem. Das ferne Lichterspiel löste in mir eine Flut von Gefühlen aus. Unwillkürlich dachte ich an Menschen, die vor dem Fernseher saßen und sich ein Baseballspiel ansahen, Menschen, die gebratene Hähnchen in hellerleuchteten Küchen aßen, die Bier tranken oder sich liebten. Als ich mich schlafen legte, spürte ich eine quälende Einsamkeit in mir aufsteigen und mir den Hals zuschnüren. Niemals in meinem Leben hatte ich mich je so einsam gefühlt.
    In dieser Nacht wurde ich von Alpträumen heimgesucht. Ich träumte von einer Polizeirazzia, Vampiren und einer Unterweltexekution und hörte jemanden flüstern:
    »Ich glaube, er ist da drin...« Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich hoch und riß die Augen auf. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Der Himmel glühte rot und war immer noch klar und wolkenlos. Nur hoch oben hatte sich eine dünne, flaumige Zirrusschicht ausgebreitet, und weit hinten über dem westlichen Horizont war eine dunkle Silhouette von Quellwolken erkennbar. Ich schlüpfte in meine Stiefel und schnallte meine Steigeisen an. Fünf Minuten später verließ ich mein Nachtlager.
    Ich hatte weder ein Seil noch ein Zelt, weder meinen Biwak - Sack noch, abgesehen von zwei Eispickeln, irgendwelche Kletterutensilien dabei. Mein Plan war, ohne viel Gepäck so schnell wie möglich den Gipfel zu erreichen und vor dem Wetterumschwung wieder zurück zu sein. Immer wieder trieb ich mich an, keuchend, außer Atem. Ich eilte links hoch über kleine Schneefelder, die durch eisverstopfte Felsspalten und kurze, treppenähnliche Partien untereinander verbunden waren. Das Klettern war beinahe angenehm - der Fels war voller Griffe und Tritte. Das Eis war zwar dünn, aber die verschiedenen Partien waren nie steiler als siebzig Grad. Meine einzige Sorge galt der Gewitterfront, die vom Pazifik her heranzog und den Himmel verdunkelte.
    Ich hatte keine Uhr, aber schon nach kurzer Zeit - jedenfalls kam es mir so vor - erreichte ich das unverkennbar letzte Eisfeld. Mittlerweile war der ganze Himmel von dunklen Wolken übersät. Der leichtere Weg führte links herum, geradeaus weiter zu klettern erschien mir jedoch schneller. Um nicht schutzlos von einem Unwetter hoch oben auf dem Gipfel überrascht zu werden, wählte ich die direktere Route. Der Fels wurde steiler und das Eis dünner. Ich schwang meinen linken Eispickel und stieß auf Stein. Ich versuchte es an einer anderen Stelle, und wieder prallte er mit dumpfem, metallischem Klingen am harten Diorit ab. Und wieder und wieder. Es war wie eine Wiederholung meines ersten Versuchs an der Nordwand. Ich sah zwischen meinen Beinen nach unten und erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Gletscher knapp siebenhundert Meter unter mir. Mir drehte sich der Magen um.
    Fünfzehn Meter über mir ging die Wand in den flachen Gipfelhang über. Wie gelähmt vor Entsetzen und Unentschiedenheit klammerte ich mich an meine Eispickel. Wieder blickte ich nach unten auf den Gletscher, dann nach oben. Dann kratzte ich etwas oberhalb

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