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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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sondern bot dem romantisch veranlagten Menschen eine ideale Bühne, auf der er den Kult ausleben konnte, den er so häufig um sein Seelenleben macht. Die Einsamkeit und absolute Freiheit der Wildnis lieferten einen geradezu idealen Hintergrund sowohl für Melancholie als auch für triumphierenden Jubel.
    RODERICK NASH,
 »WILDERNESS AND THE
 AMERICAN MIND«
      
      
    Am 15. April 1992 verließ Chris McCanderless Carthage, South Dakota. Er saß in der Fahrerkabine eines schweren Mack - Lasters, der Sonnenblumenkerne geladen hatte. Seine »große Alaska - Odyssee« war in vollem Gang. Drei Tage später überquerte er bei Roosville, British Columbia, die kanadische Grenze. Von dort aus trampte er durch Skookumchuck und Radium Junction, Lake Louise und Jasper, Prince George und Dawson Creek - wo er im Stadtzentrum ein Foto von dem Straßenschild machte, das den offziellen Anfang des Alaska Highway markiert.
    »Meile o« steht dort, und »Fairbanks 1523 Meilen«.
    Per Anhalter zu fahren ist auf dem Alaska Highway ein hartes Brot. Am Stadtrand von Dawson Creek stehen oft ein Dutzend und mehr verdrossen dreinblickende Männer und Frauen mit ausgestrecktem Daumen an der Straße. Wer Pech hat, wartet eine Woche oder noch länger auf die nächste Fahrt. McCandless jedoch kam zügig voran. Am 21. April - Carthage lag nur sechs Tage hinter ihm - erreichte er die Thermalquellen am Liard River, die Schwelle zum Yukon Territory.
    Am Liard River gibt es einen öffentlichen Campingplatz, von dem aus ein Holzsteg eine halbe Meile weit durch ein Sumpfgelände zu einer Reihe von natürlichen Thermalquellen führt. Der Ort ist der beliebteste Rastplatz am Alaska Highway, und McCandless beschloß, eine Pause einzulegen, um sich in den warmen Quellen zu aalen. Als er sein Bad beendet hatte und sich wieder daran machte, weiterzutrampen, mußte er jedoch feststellen, daß sein Glück ihn verlassen hatte. Niemand nahm ihn mit. Zwei Tage nach seiner Ankunft war er immer noch in Liard River und stand sich die Beine in den Bauch.
    An einem kühlen Donnerstagmorgen um halb sieben - der Boden war immer noch steinhart vom Nachtfrost - stolzierte Gaylord Stuckey über den Holzsteg zu dem größten Thermalbecken. Er hatte erwartet, dort noch eine Weile allein zu sein, und war überrascht, als er jemanden in dem dampfenden Wasser antraf. Der junge Mann stellte sich als Alex vor.
    Stuckey, ein glatzköpfiger, fröhlicher Dreiundsechzigjähriger mit fleischigem Gesicht, stammt aus Indiana. Er war damals unterwegs nach Fairbanks, wo er bei einem Wohnwagenhändler einen Hauscaravan abzuliefern hatte, ein Teilzeitjob, den er nach vierzigjähriger Tätigkeit in der Gastronomie nebenbei erledigte. Als er McCandless sein Ziel verriet, rief der Junge aus: »Hey, da muß ich auch hin! Aber ich sitze hier schon tagelang fest, weil mich keiner mitnimmt. Kann ich nicht vielleicht mitfahren?«
    »O je«, erwiderte Stuckey. »Ich würd dich ja liebend gerne mitnehmen, mein Junge, aber es geht leider nicht. Die Firma, für die ich arbeite, hat uns strikt verboten, Tramper mitzunehmen. Da bin ich meinen Job los.«
    Doch als er sich dann weiter mit McCandless durch den schwefeligen Dunst hindurch unterhielt, überlegte er sich es noch einmal: »Alex war frisch rasiert und hatte kurze Haare. Ich hab gleich an den Worten, die er benutzt hat, gemerkt, daß er ein richtig kluger Bursche war. So wie man sich einen typischen Anhalter vorstellt, war er jedenfalls nicht. Ich bin sonst schon mißtrauisch bei denen. Ich denk mir, da kann irgendwas nicht stimmen mit 'nem Typen, der sich nicht mal 'ne Busfahrkarte kaufen kann. Jedenfalls, nach ungefähr einer halben Stunde sagte ich:
    ›Weißt du was, Alex: Liard ist tausend Meilen von Fairbanks weg. Ich nehm dich fünfhundert Meilen mit, bis Whitehorse. Von da kommst du bestimmt weiter.‹« Anderthalb Tage später jedoch, als sie in Whitehorse ankamen - die Hauptstadt von Yukon Territory und die größte und lebendigste Stadt am Alaska Highway - , hatte Stuckey solchen Geschmack an der Gesellschaft des Jungen gefunden, daß er seine Meinung änderte und einverstanden war, ihn bis nach Fairbanks mitzunehmen. »Alex hat am Anfang kaum was gesagt«, berichtet Stuckey. »Aber es ist eine lange Fahrt, die nur schleppend vorangeht. Wir haben insgesamt drei Tage zusammen verbracht, und die Straßen waren so glitschig wie Waschbretter. Am Ende war er nicht mehr so mißtrauisch und hat frei von der Leber weg erzählt. Ich sag Ihnen

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