In die Wildnis
Menschen innewohnende Risikobereitschaft einfach bis zum Äußersten geführt.
Er hatte das Bedürfnis, sich selbst auf die Probe zu stellen, und zwar dort, wo, wie er es gerne ausdrückte, »es zählte«. Er hatte große - manche würden sagen zu große - spirituelle Ansprüche. Innerhalb des moralischen Absolutismus, der McCandless auszeichnete, ist eine Herausforderung, deren erfolgreicher Ausgang von vornherein feststeht, nicht der Mühe wert.
Es ist natürlich nicht nur die Jugend, die dem Reiz der Gefahr erliegt. John Muir ist uns vor allem als nüchterner Naturschützer, Gründungsmitglied und Präsident des Sierra Clubs bekannt, aber er war auch ein kühner Abenteurer und furchtloser Kletterkünstler, der sich sein Leben lang an Gipfeln, Gletschern und Wasserfällen versuchte. Sein bekanntester Essay erzählt unter anderem von einer Besteigung des Mount Ritter im Jahr 1872, bei der er um ein Haar in den Tod gestürzt wäre. In einem anderen Essay beschreibt er ganz verzückt, wie er einmal - freiwillig - einen wildtobenden Sierra - Sturm in den höchsten Wipfeln einer dreißig Meter hohen Douglastanne überstand:
Nie zuvor erlebte ich einen solch edlen Rausch der Bewegung. Die zarten Wipfel schwangen und schlugen im tobenden Sturm hin und her, krümmten sich vor und zurück oder drehten sich immer wieder im Kreise, so als spürten sie unbeschreiblichen Kombinationen aus vertikalen und horizontalen Kurven nach. Und ich umklammerte mit letzter Kraft den Stamm, wie ein Paperling ein Schilfrohr.
Er war damals sechsunddreißig Jahre alt. Es ist nicht anzunehmen, daß Muir McCandless' Aktion für besonders seltsam oder töricht gehalten hätte.
Selbst der betuliche Thoreau, der bekanntermaßen erklärte, daß es genügte »in Concord viel umhergekommen zu sein«, spürte den Drang, die viel wilderen und furchterregenderen Landstriche im Maine des neunzehnten Jahrhunderts aufzusuchen und den Gipfel des Mount Katahdin zu erklettern. Die Besteigung der »zerklüfteten, angsteinflößenden und dennoch wunderschönen« Felswände erschütterte und ängstigte ihn und erfüllte ihn doch gleichzeitig mit einer fast trunkenen Ehrfurcht. Einige seiner eindringlichsten und besten Schriften sind der Unruhe zu verdanken, die ihn auf den Granitgipfeln des Katahdin durchströmte und einen tiefen Eindruck auf seine Sicht der Welt in ihrem nackten, ungezähmten Zustand hinterließ.
Anders als Muir und Thoreau zog McCandless nicht in erster Linie in die Wildnis aus, um über die Natur oder die Welt im allgemeinen nachzusinnen. Sein Ziel war vielmehr, das weite Land seiner Seele zu erkunden. Er sollte dabei jedoch rasch eine Entdeckung machen, die für Muir und Thoreau längst selbstverständlich war: Ein längerer Aufenthalt in der Wildnis lenkt die Aufmerksamkeit in gleichem Maße auf die Außenwelt wie auch auf das Innenleben. Es ist unmöglich, von dem Land, der Flora und Fauna zu leben, ohne sowohl ein eingehendes Verständnis als auch eine starke emotionale Bindung zu dem Land und allem, was darauf wächst und gedeiht, zu entwickeln.
McCandless' Tagebucheinträge enthalten wenig theoretische Überlegungen über die Wildnis, genaugenommen überhaupt nur wenig an Allgemein - Philosophischem. Umgebung und Landschaft finden darin ebenfalls kaum Erwähnung. Tatsächlich geht es in diesen Einträgen, wie Romans Freund Andrew Liske beim Lesen einer Kopie des Tagebuchs bemerkt, »beinahe ausschließlich um das, was er gegessen hat. Er hat fast ausschließlich übers Essen geschrieben.«
Andrew übertreibt nicht: Das Tagebuch ist nicht viel mehr als eine Aufzählung der Pflanzen, die er aufgestöbert, und dem Wild, das er erlegt hat. Es wäre jedoch ungerecht, daraus zu schließen, daß McCandless die Schönheit der Landschaft, die ihn umgab, nicht zu schätzen wußte, daß ihn die überwältigende Kraft der Natur kalt ließ. Der Kulturökologe Paul Shepard bemerkte:
Der nomadische Beduine ergeht sich nicht in langen Schwärmereien über die Landschaft. Weder malt er sie, noch käme es ihm in den Sinn, eine für das alltägliche Leben nutzlose naturgeschichtliche Abhandlung zu schreiben ... Sein Leben und Tun greifen so eng mit der Natur ineinander, daß es für Abstraktion, Ästhetik oder einer über den Alltag hinausgehende »Naturphilosophie« keinen Platz gibt... Die Natur und seine Beziehung zu ihr sind eine todernste Angelegenheit, die ihm durch Konvention, Mysterium und die tägliche Gefahr auferlegt wird. Seine
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