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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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der nur die Straße sein Heim nennt...
    Direkt unterhalb dieses Manifestes steht der Ofen, der aus einem rostigen Ölfaß zusammengebastelt wurde. Aus seiner Öffnung ragt ein vier Meter langer Fichtenstamm heraus. Über dem Stamm liegen zwei zerschlissene Jeans, die dort allem Anschein nach zum Trocknen ausgebreitet wurden. Eine davon - Größe dreißig/zweiunddreißig - ist notdürftig mit silbernem Isolierband geflickt. Das andere Paar ist sorgfältiger repariert worden, mit Flicken aus einer verblichenen Bettdecke, die über riesige Löcher an den Knien und am Hosenboden genäht wurden. Durch die Gürtelschlaufen der letzteren ist noch eine Art Gürtel gezogen, ein schmaler langer Stoffstreifen aus einer Wolldecke. Wie mir plötzlich klar wird, hatte McCandless sich diesen Gürtel wahrscheinlich deshalb gemacht, weil er so stark abgemagert war und ihm ständig die Hose herunterrutschte.
    Ich setze mich auf eine Stahlkoje gegenüber vom Ofen und grübele weiter über den gespenstischen Anblick nach, der sich mir bietet. Wo immer ich auch hinsehe, überall macht sich McCandless' Anwesenheit bemerkbar. Hier sein Nagel - Clipper, da drüben sein grünes Nylon - Zelt, das eins der herausgebrochenen Fenster der Vordertüre notdürftig zudeckt. Seine Wanderschuhe stehen fein säuberlich unter dem Ofen, so als würde er gleich zurückkehren, um hineinzusteigen und sich auf den Weg zu machen. Mir ist richtig mulmig zumute; ich komme mir vor wie ein Eindringling, wie ein Voyeur, der sich in McCandless' Schlafzimmer gestohlen hat, während er kurz weg ist. Plötzlich ist mir ganz übel. Ich wanke aus dem Bus und gehe ein paar Schritte am Fluß entlang, um frische Luft zu schnappen.
    Eine Stunde später machen wir in der Abenddämmerung ein Lagerfeuer. Die Regenwolken mit ihren kurzen, windigen Schauern haben den schwülen Dunstschleier aus der Luft gespült und sind weitergezogen. In der Ferne setzen sich Hügelketten in all ihren Einzelheiten gegen den leuchtenden Abendhimmel ab. Am nordwestlichen Horizont, hinter den letzten Wolken, erstrahlt ein weißglühender Streifen Himmel. Roman packt ein paar Steaks aus, die noch von einem Elch stammen, den er letzten September in der Alaska Range erlegt hat, und legt sie auf den rußigen Grill übers Feuer, auf denselben Rost, auf dem McCandless gegrillt hat. Elchfett spritzt zischend in die Glut. Mit den Fingern essen wir das knorpelige Fleisch, schlagen nach Moskitos und unterhalten uns über diesen so sonderbaren Menschen, den keiner von uns kannte. Wir überlegen, auf welche Weise McCandless letztlich den Tod fand, und auch, warum die Leute ihn so sehr dafür verachten, daß er hier an diesem Ort gestorben ist.
    Als McCandless in diese Gegend kam, hatte er absichtlich eine unzureichende Menge an Proviant dabei, und in seiner Ausrüstung fehlten gewisse Dinge, die viele Alaskaner für unentbehrlich halten: ein großkalibriges Gewehr, Karte und Kompaß, und eine Axt. Dies wurde immer wieder als Beweis herangezogen, und zwar nicht nur für seine Dummheit, sondern für die ungleich schlimmere Sünde der Arroganz. Einige Kritiker haben McCandless sogar mit der zugleich berüchtigsten und tragischsten Figur der Arktis verglichen: Sir John Franklin, einem britischen Marineoffizier des neunzehnten Jahrhunderts, der in seinem blasierten Hochmut den Tod von ungefähr einhundertvierzig Menschen, seinen eigenen eingeschlossen, mitzuverantworten hatte.
    Die britische Admiralität hatte Franklin 1819 damit beauftragt, eine Expedition in die Wildnis von Nordwestkanada anzuführen. Zwei Jahre, nachdem es England verlassen hatte, wurde sein kleines Expeditionskorps vom Wintereinbruch überrascht, während er und seine Männer sich gerade durch ein weitläufiges Tundragebiet kämpften. Das Gebiet war so unermeßlich und bar jeden Lebens, daß sie ihm den Namen »The Barrens« - Ödland - gaben, unter dem es bis heute bekannt ist. Schon bald war ihnen der Proviant ausgegangen. Da es kaum Wild gab, blieb Franklin und seinen Männern nichts anderes übrig, als sich von Flechten, die sie von Felsblöcken kratzten, von abgeflammter Rehhaut, Tierkadaverknochen, ihrem eigenen Stiefelleder und schließlich sogar von dem Fleisch ihrer eigenen Gefährten zu ernähren. Bevor das Martyrium ein Ende nahm, waren mindestens zwei Leute ermordet und verspeist worden. Der Mordverdächtige war im Schnellverfahren hingerichtet worden, acht Männer waren durch Krankheit verendet oder verhungert. Franklin selbst

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