In die Wildnis
Mußestunden verbringt er nicht mit eitlen Vergnügungen, noch würde er sich anmaßen, in die Vorgänge, die sich in der Natur abspielen, einzugreifen. Sein Leben ist jedoch von einem starken Bewußtsein geprägt für diese Kraft der Natur, das Land, das launische Wetter und den schmalen Grat, auf dem er sich bewegt, um zu überleben.
Vieles davon trifft auch auf McCandless während der Monate zu, die er am Sushana River verbrachte.
Man würde es sich zu einfach machen, wollte man McCandless auf das Klischee des allzu überschwenglichen Jünglings reduzieren, der zuviel Zeit mit Bücherlesen verschwendete und nicht einmal ein Minimum an gesundem Menschenverstand besaß. Aber dieses Klischee paßt nicht zu ihm. McCandless war nicht irgendein hohler Traumtänzer, ziel und orientierungslos und von einer existentiellen Hoffnungslosigkeit befallen. Im Gegenteil: Er wollte leben, und zwar so intensiv wie irgend möglich, und er wußte auch, wofür. Aber was er dem Leben an Sinn abgerungen hatte, war nicht auf dem Weg des geringsten Widerstands zu erreichen: Alles, was zu einfach war, war McCandless von vornherein suspekt. Er verlangte sich sehr viel ab - mehr als er am Ende in der Lage war, zu geben.
Manche Leute versuchen, McCandless' unkonventionelles Verhalten damit zu erklären, daß er wie John Waterman von kleiner Statur war und daher vielleicht an einem Minderwertigkeitskomplex litt, einem grundlegenden Mangel an Selbstvertrauen, der ihn dazu zwang, seine Männlichkeit durch extreme physische Belastungsproben ständig unter Beweis zu stellen. Eine andere Theorie besagt, daß ein schwärender ödipaler Konflikt die Ursache seiner verhängnisvollen Odyssee gewesen sei. Auch wenn beide Hypothesen irgendwo zutreffen, so ist diese Art der posthumen Fernanalyse ein fragwürdiges, höchst spekulatives Unterfangen, das den Analysanden zwangsläufig herabwürdigt und trivialisiert. Es erscheint von fraglichem Nutzen, McCandless' sonderbares spirituelles Streben auf ein paar ins Bild passende psychische Störungen zu reduzieren.
Roman, Andrew und ich blicken abwesend in die Glut und unterhalten uns bis spät in die Nacht über McCandless. Roman ist zweiunddreißig, hat Biologie studiert und in Stanford promoviert. Er ist von Natur aus wißbegierig, sagt ungeschminkt seine Meinung und ist von jeher mißtrauisch gegenüber konventionellen Wahrheiten. Seine Jugend brachte er wie McCandless in den Washingtoner Villenvierteln zu und erlebte sie in jeder Hinsicht als ebenso erdrückend wie Chris. Nach Alaska kam er zum erstenmal als Neunjähriger, um ein Onkeltrio zu besuchen, das auf einer Zeche von Usibelli arbeitete, einem großen Bergwerkskonzern mit Tagebaugruben östlich von Healy. Hals über Kopf verliebte er sich in den Norden und alles, was damit zusammenhing. In den folgenden Jahren kehrte er immer wieder in den neunundvierzigsten Bundesstaat zurück. 1977 - da war er sechzehn und hatte gerade als Klassenbester die High - School abgeschlossen - zog er nach Fairbanks und machte Alaska zu seiner Wahlheimat.
Derzeitig unterrichtet Roman in Anchorage an der Alaska Pacific University und ist im ganzen Staat für eine Reihe langer, draufgängerischer Touren durch das Landesinnere bekannt: Er hat - neben anderen Bravourstücken - zu Fuß und mit dem Kajak die eintausend Meilen lange Brooks Range durchquert, ist im Winter bei Temperaturen um minus zwanzig Grad auf Skiern zweihundertfünfzig Meilen durch das Staatliche Wildreservat der Arktis gefahren, durchmaß die siebenhundert Meilen langen Kammlagen der Alaska Range und brachte über dreißig Erstbesteigungen alaskanischer Berg und Felsgipfel zuwege. Und Roman sieht keinen Unterschied zwischen seinen allgemein bewunderten Leistungen und McCandless' Abenteuer, außer daß McCandless das Pech hatte, umzukommen.
Ich bringe McCandless' Hybris und die dummen Fehler, die er sich leistete, zur Sprache - die zwei, drei leicht vermeidbaren Schnitzer, die ihn schließlich das Leben kosteten. »Klar, er hat's vermasselt«, antwortet Roman, »aber ich bewundere ihn für das, was er versucht hat. Nur von dem zu leben, was die Natur an Nahrung hergibt, und das über Monate, ist irrsinnig schwer. Ich hab's nie versucht. Und ich wette, von denen, die McCandless als unfähig verschreien, hat es ebenfalls kaum einer versucht, jedenfalls nicht länger als ein, zwei Wochen. Sich über einen längeren Zeitraum in der Wildnis aufzuhalten und sich allein auf das zu verlassen, was man erjagt
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