In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
könnte mich jetzt in den Weihnachtsferien in Ruhe darum kümmern, aber …« Er brach ab, doch ich wusste auch so, was er sagen wollte: Dann hatte sich Mams Zustand massiv verschlechtert, und Ted hatte in aller Eile Sonderurlaub beantragt, eine Vertretung für seine Vorlesungen und Seminare organisiert und sich in den nächsten Flieger nach Frankfurt gesetzt.
Ted räusperte sich und wandte sich um, und ich trottete ihm durch den anderen Türrahmen hinterher.
»Da schlafe ich.« Im zweiten Teil des Flurs, der genauso schmal war wie der Bereich hinter der Wohnungstür, nur ungleich länger, zeigte Ted auf die letzte Tür auf der rechten Seite und öffnete dann die Tür gegenüber. »Und das ist mein Arbeitszimmer.«
Der breite Schreibtisch neben dem Fenster war rings um die Aluminiumlampe und den Bildschirm mit aufgeschlagenen Büchern und unordentlichen Papierstößen übersät. Die Bücherregale waren hier schon etwas voller, aber trotzdem standen noch Kisten herum; einige davon waren geöffnet und Holzwolle quoll daraus hervor. In einer der sonst leeren Vitrinen lagen Pfeilspitzen aus Stein und eine Statue aus schwarzem Holz mit teuflischen Gesichtszügen wachte kriegerisch über verstöpselte Behälter aus Glas mit Kräutern und verschiedenen Pulvern. Ein Speer lehnte in der Zimmerecke hinter einem Ballen Plastikfolie, unter dem sich wohl irgendein Möbelstück verbarg, und über der Tür hing eine in Rot, Schwarz und Gold bemalte Dämonenmaske mit gebleckten, spitz zulaufenden Zähnen: Souvenirs und Studienobjekte, die Ted von seinen vielen Reisen und monatelangen Aufenthalten in Südamerika, Asien, Ozeanien und Afrika mitgebracht hatte.
Als ich mich auf der Türschwelle umdrehte, fiel mein Blick auf eine ganze Menge gerahmter Fotografien an der Wand zwischen Teds Schlafzimmer und dem Wohnzimmer, die mich magisch anzogen. Verblüfft starrte ich auf mein Gesicht, eine Aufnahme vom vorletzten Sommer, auf der ich bei einer Bootsfahrt auf dem See vergnügt in Mams Kamera blinzelte, während der Wind mir die Haare zerwühlte. Eins nach dem anderen betrachtete ich die Bilder und nahm dabei kaum wahr, wie Ted die Deckenleuchte über mir einschaltete. Ein Foto von meiner Konfirmation vor zwei Jahren. Klassenfotos vom Gymnasium und aus der Grundschule. Mam und ich am Strand in der Türkei, zu Piratentüchern geknotete Bandanas um den Kopf, wie sie mich an sich drückte und mit der anderen Hand die Kamera hochhielt; ich hörte förmlich unser Cheese! , das wir dabei kichernd gerufen hatten. Ein Foto von mir und meiner grasgrünen Schultüte an meinem ersten Schultag war darunter und eines, auf dem ich mit breitem Grinsen meinen ersten fehlenden Milchzahn zeigte, meine Haare mit grellrosafarbenen Gummis zu zwei Rattenschwänzen hochgebunden. Ich als ganz kleines Mädchen, wie ich in Rüschenbikini und mit Sonnenhütchen bis zu den Knien in einem Springbrunnen stand und gerade mit verschmierter Schnute von der Kugel Eis hochguckte, die ich in der Waffel vor mir herbalancierte. Aus jedem Jahr war ein Foto dabei, aus manchen auch zwei oder mehr, und obwohl ich die meisten aus unseren Alben zu Hause kannte, waren auch welche darunter, die ich noch nie gesehen hatte.
Einen Schnappschuss gab es, wie ich mich als pausbäckiges Krabbelkind gerade an einem Knie in Jeans (Teds?) hochzog und aus großen Augen verwundert in die Kamera schaute, und ein Babyfoto, auf dem ich nur Pampers anhatte und auf Teds nackter Brust selig schlummerte. Und eines von einem gewaltigen Schwangerschaftsbauch, auf den mit einer dunklen, halb zerlaufenen Paste rings um den vorstehenden Nabel ein Smiley-Gesicht gemalt war. Schemenhaft war am Bildrand eine Hand (höchstwahrscheinlich Mams) zu erkennen, die den Saum einer blauen Bluse hochgezogen hielt.
»Das war knapp zwei Wochen, bevor du zur Welt gekommen bist«, hörte ich Ted neben mir sagen. »Karen hat in dieser Zeit eimerweise Erdbeereis mit Schokoladensauce verschlungen. Ich hab sie immer damit aufgezogen und beim Herumalbern ist dieses Foto entstanden.«
Ich schielte zu ihm hin; ein wehmütiges Lächeln zuckte um seinen Mund und der Glanz in seinen Augen ließ sie verdächtig feucht aussehen. Mit zusammengekniffenen Brauen konzentrierte ich mich schnell wieder auf die Bilder vor mir.
Ich entdeckte ein leicht unscharfes Foto, auf dem Mam sich wohl gerade schwungvoll umgedreht hatte; mit fliegenden Haaren und verführerischem Augenaufschlag machte sie einen Kussmund in Richtung des Fotografen.
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