In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
für einen Stadtbummel abzuholen, und weil ihr Drei-Uhr-Termin kurzfristig abgesagt hatte, war sie spontan auf die Idee gekommen, ein paar Bilder von uns beiden zu schießen; Fotos, die ihrem Chef so gut gefielen, dass er eines davon sogar in seinem Schaufenster ausstellte. Mam sah so hübsch aus auf dem Foto, dezent geschminkt, die Haare locker hochgesteckt und in einer hellen grau-blau gemusterten Bluse, die genau zu ihren Augen passte. Viel jünger als achtunddreißig und sprühend vor Energie. Dabei musste da schon der Tumor in ihrem Kopf zu wuchern angefangen haben, bevor er sich einige Wochen später bemerkbar machte, als Mam sich zunehmend matt und müde fühlte, blass und dünn wurde und immer häufiger Kopfschmerzen bekam.
Meine Hände zitterten, als ich den Bilderrahmen auf den Nachttisch stellte, und mein Blick fiel auf einen Zettel auf dem Kopfkissen, von irgendeinem Schokoriegel in orangefarbener Verpackung beschwert. WELCOME HOME !, stand darauf, daneben waren ein schiefes Herz und ein glupschäugiger Smiley gemalt. Nach Teds Handschrift sah es nicht aus, vielleicht stammte die Notiz von der erwähnten Mrs Ramirez. Ich griff danach und feuerte beides in die hinterste Ecke.
Das hier war nicht mein Zuhause und würde es auch niemals sein.
Ein blödes Stück Papier namens Sorgerechtserklärung war schuld daran, dass ich jetzt in diesem Zimmer stand, das, auch wenn es haargenau so eingerichtet war wie mein altes, noch lange nicht meins war. Ein juristisches Dokument, von Mam und Ted unterschrieben, als ich noch ganz klein gewesen war, für einen damals vollkommen abstrakten Notfall gedacht, der sich nun doch eingestellt hatte. Nur ein Stück Papier, das aber so schwer wog wie ein Steinblock und sich genauso wenig beiseite schieben ließ. Und Mam wollte es auch nicht rückgängig machen, das hatte sie meinen Großeltern unmissverständlich klargemacht, in langen Telefongesprächen, in denen Worte wie »Jugendamt«, »Kindeswohl«, »gemeinsames Sorgerecht« und »Familienrichter« vorkamen und deren Tonfall mit zunehmender Dauer schärfer wurde. Hinterher hatte sie mit leerem Blick durch die Fernsehkanäle gezappt, einen verbissenen Zug auf dem Gesicht unter dem zum Turban geknoteten Tuch, mit dem sie ihren kahlen Kopf verhüllte. Dabei hatte sie so erschöpft ausgesehen, dass ich mich nicht traute, ihr zu sagen, ich würde lieber nur zweihundert Kilometer weit wegziehen, zu Oma und Opa, anstatt zehntausend. Vor allem wollte ich nicht, dass sie dachte, ich hätte sie aufgegeben, wenn ich von mir aus vom DANACH anfing. Wo sie doch die OP auf sich genommen hatte, tapfer ihre Medikamente schluckte und die Infusionen über sich ergehen ließ, nach denen es ihr meistens dreckig ging; alles nur, um noch so viel Zeit mit mir herauszuholen wie möglich. Und DANACH – danach war es zu spät gewesen, danach waren alle Formulare schon ausgefüllt, alle Anträge bearbeitet und bewilligt gewesen und der Flug gebucht. One-way.
Wie ein Ballon, aus dem man die Luft rauslässt, fühlte ich mich mit einem Mal schlapp und leer. Ich schlüpfte aus meiner Jacke und ließ sie einfach fallen, zerrte mir die Stiefel von den Füßen und stieg aus meiner Jeans. Aus meinem Rucksack angelte ich den kleinen Bären mit der Weihnachtsmannmütze, den mir Julia zum Abschied geschenkt hatte, schnappte mir die Strickjacke und kroch unter die Zudecke. Die Bettwäsche roch sogar noch nach unserem Waschmittel, genau wie Mams Lieblingsjacke immer noch ihren Duft verströmte, nach ihrem Parfüm, das mich an einen Sommer am Meer erinnerte. Mein Gesicht in dem flauschigen Gewebe vergraben, starrte ich das Foto von Mam und mir an. Und ich vermisste Mam so sehr, dass ich es körperlich spürte, wie ein klaffendes Loch in meiner Magengegend.
Ich hörte, wie Ted in der Wohnung umherging. In die dudelnde Melodie des hochfahrenden Computers im Arbeitszimmer mischten sich die blechernen Stimmen auf dem Anrufbeantworter. Nach der letzten Nachricht piepsten die Tasten eines Telefons; einige Sekunden später begann Ted unter mattem Auflachen ein Gespräch, von dem bei mir nur Wortfetzen ankamen, teils weil er seine Stimme dämpfte, teils weil er gerade am anderen Ende des Apartments war. Aus dem Stockwerk über mir drangen Schritte herunter und draußen heulte irgendwo erneut die Sirene eines Einsatzfahrzeugs.
Hier in San Francisco war immer noch der 29. Dezember, genau wie bei unserem Abflug in Frankfurt. Es waren immer noch 704 Tage, die vor mir
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