In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
vertragen.
»Ich wünschte, ich könnte bereuen«, brachte ich mühselig hervor. »Aber ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nicht, was ich verbrochen haben könnte.«
Im Flüsterton wiederholte Abby meine Worte für Holly. Unwillkürlich hob sich einer meiner Mundwinkel. Abby, die so kratzbürstig sein konnte und doch im Grunde so sanft und lieb war. Bei der ich immer das Bedürfnis hatte, sie beschützen zu müssen wie ein großer Bruder seine kleine Schwester.
Hollys braune Augen richteten sich auf mich, ganz offen, obwohl sie mich weder sehen noch hören konnte. Was ich sehr bedauerte; ich mochte, dass Holly so bunt war und so lebhaft, und ich mochte ihr warmherziges, großzügiges Wesen. Ich hätte sie gern besser kennengelernt.
»Wir haben uns überlegt«, erwiderte sie leise, »ob Amber dir nicht dabei helfen kann, dich zu erinnern. Offenbar hat sich für sie über dieses Band zwischen euch eine Tür zur Vergangenheit geöffnet, vielleicht sogar zu deiner Vergangenheit. Vielleicht ist es möglich, dass dadurch deine Erinnerung zurückkommt. Einen Versuch wäre es wert.«
Ich starrte vor mich hin. Wenn ich an mein früheres Leben dachte, blickte ich in einen dichten grauen Nebel. Aber wenn ich ehrlich war, ahnte ich, dass darunter ein tiefer, finsterer Abgrund klaffte, der mich das Fürchten lehrte. Woher sollte ich den Mut nehmen, mich dort hineinfallen zu lassen, nachdem ich es weit über hundert Jahre nicht geschafft hatte?
Ich hielt die Antwort in meiner Hand. Mit Ambers Fingern, die meine umfassten.
Holly hatte recht: Es konnte kein gutes Ende nehmen. Vor allem für Amber nicht, aber auch für mich nicht. Die Schmerzen, die mich quälten, waren nur der Anfang gewesen; ich hatte mich zu verändern begonnen. Als ob mich diese Attacken aus der Tiefe meines Seins langsam auffraßen und aushöhlten, so fühlte es sich an. Als hätte diese Nacht mich alle Energie gekostet, die mir noch geblieben war. Und ich erriet, dass ich dabei war, zu einem dieser formlosen, schillernden Nebel zu werden, die ich selbst fürchtete. Die Zeit, die mir bis dahin noch blieb, durfte ich nicht ungenutzt verstreichen lassen. Den Gedanken, Amber bald schon auf immer zu verlieren, konnte ich nicht ertragen, aber mir blieb wohl keine andere Wahl.
Nacheinander sah ich sie an. Matt. Holly. Abby. Shane. Wenn ich schon gehen musste, so würde ich Amber wenigstens nicht allein zurücklassen. Sie hatte Freunde, die diese Bezeichnung wahrhaftig verdienten, Freunde, wie ich sie auch gern gehabt hätte. Und Shane, mit dem sie sicher ein neues Glück finden würde.
Ich wünschte mir so sehr, an seiner Stelle sein zu können.
Und dass ich bei meinem Funny Girl bleiben könnte.
76
Wie Milchsuppe hing der Nebel über der Bay. Warm in meine Winterjacke eingepackt, saß ich auf einer der Holzbänke und blickte auf das Wasser. Auf die braune Insel von Yerba Buena, die hinter dem dicken Dunstschleier schemenhaft zu erkennen war, und hinüber zur silbernen Bay Bridge mit ihren beiden Ebenen, auf denen die Folge der Autos und Trucks in beide Richtungen niemals abzureißen schien. Eine Weile schaute ich einer der Möwen zu, die irgendwo eine große Krabbe aufgesammelt hatte und nun versuchte, sie mit dem Schnabel aufzuhacken oder sie auf den Asphalt zu werfen, um sie so zu knacken. Bis sie schließlich aufgab und mit einem empörten Schrei aufflog.
Ich wandte den Kopf und sah Nathaniel an. Wie er neben mir im kalten Wind saß, nur in seinem am Kragen offen stehenden, dünnen Hemd, fror es mich nur schon vom Hinsehen. Seine Hände um die Sitzfläche der Bank geklammert, stierte er mit leerem Blick vor sich hin.
»Es tut mir leid«, raunte er, ohne mich dabei anzusehen.
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und vergrub meine kalten Finger tiefer in den Jackentaschen. Jeden Nachmittag nach der Schule waren wir losgezogen, um mit dem Cable Car oder dem Bus kreuz und quer durch die Stadt zu fahren, irgendwo auszusteigen und dann bergauf und bergab zu laufen, immer auf der Suche nach einem Ort, einem Straßennamen, einem Haus oder auch nur einer Aussicht, an die Nathaniel sich erinnerte. Nur er und ich, darum hatte er gebeten, was ich gut verstehen konnte, denn schließlich betraf es auch nur uns beide. Und sobald mir unterwegs schwindelig wurde und ich in die Vergangenheit abdriftete, versuchte ich, Nathaniel so genau wie möglich zu beschreiben, was ich sah. Mir war es längst egal, wenn ich wieder zu mir kam und die irritierten bis
Weitere Kostenlose Bücher