In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
ihm über den Rücken. »Nathaniel O’Reilly.« Es bedeutete mir ungeheuer viel, endlich seinen vollen Namen zu kennen. Als ob ihm das mehr an Kontur, mehr Körperlichkeit verlieh. Ihn wirklicher und greifbarer machte.
Ich wollte noch etwas sagen, aber im nächsten Moment überrollte mich noch einmal ein taumeliges Gefühl. Stärker als ich es gewohnt war, mit einer Heftigkeit, die mich nach Luft schnappen ließ und mir Angst machte.
»Hör auf«, wisperte ich. »Das reicht für heute! Hör auf!«
»Ich … ich kann nicht«, stieß Nathaniel heiser hervor. Ich hörte am scharfen Klang seiner Stimme, dass er ebenfalls Angst hatte und sich mit aller Kraft dagegen wehrte, weitere Erinnerungen zuzulassen. »Ich kann nicht aufhören! Es ist stärker als ich!« Ich spürte, in welchem Aufruhr er war; in ihm tobte und wirbelte es in alle Richtungen, als würde er von einem gewaltigen Sog gepackt und mitgerissen. Und ich gleich mit.
77
Wie in einer tosenden Flut rauschten aufflackernde Bilder und Geräuschfetzen durch mich hindurch, wild und ungeordnet und in so rasender Geschwindigkeit, dass mir schlecht wurde. Nathaniel mit ein paar anderen Jungs, wie sie an einer Straßenecke herumlungerten, den Mädchen hinterherjohlten und schrille Pfiffe hinterherschickten. Wie sie mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen, den Kragen der schlecht sitzenden Jacken hochgeschlagen, ziellos durch die Stadt schlenderten und eine herumliegende Konservenbüchse kurzerhand unter Freudengebrüll und Gelächter zum Fußball umfunktionierten, halb schon Männer und trotzdem irgendwie noch Kinder. Nate! Hey, Nate! Lachend drehte sich Nathaniel um und begrüßte mit kräftigem Handschlag und Schulterklopfen einen stämmigen Jungen, ein bisschen älter als er, das Gesicht unter dem gescheitelten braunen Haar eine seltsame Mischung aus Babyface und Bulldogge. Hey, Jack! Alles klar bei dir? Ziehen wir um die Häuser? Nathaniel, wie er mit seinem ganzen Körper ein schwarzhaariges Mädchen in einer engen Gasse gegen die Hauswand drückte und heftig küsste; Nathaniels bloßer Rücken, hell im schummrigen Licht einer winzigen Kammer, während er sich im Bett mit einem anderen, blonden Mädchen wälzte.
»Entschuldige«, hörte ich Nathaniel zerknirscht an meinem Ohr raunen; ich kniff die Augen fester zusammen, weil es mir trotzdem wehtat, das mitanzusehen.
Durch schmutzige Straßen am Fuß des Telegraph Hill stolperte ich Nathaniel, Jack und den anderen Jungs hinterher. Mal bei Tag, wenn fast nur chinesische Kulis unterwegs waren, einen geflochtenen Zopf über den Rücken baumelnd, die an langen Bambusstangen über der Schulter Lasten vorbeischleppten. Chinesische Frauen trippelten in winzigen Schuhen mit dicken Sohlen daher und indisch aussehende Männer trugen Körbe voller Wäsche auf ihren Köpfen. Mal bei Nacht, im Schein der Gaslampen, wenn die Straßen von zahlreichen Männern bevölkert waren, von Seemännern, Bauern vom Land und Arbeitern aus der Stadt, zwischen denen sich Kartenkünstler, Hütchenspieler und Bettler tummelten. Schon von Weitem roch ich Bier und Hochprozentiges und an manchen Ecken wurde mir schlecht von dem Gestank. Eine Kneipe reihte sich an die andere, allesamt sahen sie aus wie Westernsaloons und hießen The Bull’s Run , The Cock of the Walk , Star of the Union oder Every Man is Welcome ; finster aussehende Türsteher wiesen abgerissene Typen ab oder solche, die nach Ärger oder Zechprellerei aussahen. Von überall her lärmten dröhnende Stimmen und Musik an mich heran, Dixieland, Gassenhauer, ein schwungvolles Klimpern auf einem verstimmten Piano, eine kokette Frauenstimme, die ein anzügliches Lied trällerte; eine Mundharmonika, ein Banjo, eine einsame Geige und sogar einen Dudelsack konnte ich hören. Na, Jungs, wie wär’s? ,rief eine üppig gebaute Frau mit viel Farbe im Gesicht und einem tief ausgeschnittenen und eng geschnürten Kleid. Du da! Du mit den dunklen Locken! Mit ihrem Fächer zeigte sie auf Nathaniel. Für so einen Hübschen wie dich mach ich den halben Preis! Die Jungs um Nathaniel johlten und schlugen ihm auf die Schulter, und ein erwartungsvolles Grinsen auf dem Gesicht, ging er mit betont forschen Schritten auf die Frau zu. In einer anderen Gasse warteten grazile und kunstvoll geschminkte Chinesinnen, jünger noch als ich, in bunter Seide auf ihre Kunden, und in der Luft lag ein schwerer, süßer Geruch wie von Räucherstäbchen, der mir den Kopf vernebelte.
Wir konnten nur an
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