In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
über Bücher unterhielten, über Beziehungen und Männer- und Frauenrollen; über patriarchalische und matriarchalische Gesellschaftsstrukturen, Göttinnen der Weltreligionen und Archetypen und darüber, dass Holly vielleicht ihren College-Abschluss nachholen und studieren wollte. Ein sanftes, beruhigendes Hintergrundgeräusch hatte sich an diesen Abenden aus ihren beiden Stimmen gewoben, das mich in den Schlaf wiegte.
Dieses Bett-Dings zwischen Holly und Matt war kurz nach der Unfallnacht im Sand verlaufen, warum und wann genau, das wussten die beiden wohl selbst nicht so richtig. Matt musste irgendwann doch begriffen haben, wie gut er Abby eigentlich fand. Wenn man die beiden zusammen erlebte, hatte man zwar öfter mal den Eindruck, sie könnten sich nicht ausstehen, weil sie sich eigentlich ständig in den Haaren lagen. Aber bei ihnen stimmte es definitiv, dass sich neckt, was sich liebt; die Blicke, die sie sich in ihren Wortgefechten zuwarfen, sprachen ebenso Bände wie ihre zärtlichen Küsse vor den Schließfächern.
Über Geister sprachen wir kaum noch. Ab und zu sah einer von uns zwar noch einen Geist in der Stadt und manchmal liefen wir an der Jefferson High dem Jungen mit den stoppelkurzen Haaren und den veilchenblauen Augen über den Weg. Aber irgendwie hatte es nicht mehr dieselbe Bedeutung für uns; vielleicht weil wir seitdem alle dem Tod zu nahe gekommen waren und jetzt den Blick weitaus mehr auf das Leben richteten. Vergessen hatten wir es trotzdem nicht, dass es die Welt der verlorenen Seelen gab. In den letzten Wochen war auf Abbys zierlichem Rücken in Carsons Studio ein wunderschönes Tattoo entstanden: ein filigranes, ineinander verschlungenes Drachenpärchen in klassischem Schwarz, das in den Klauen und in den eingeringelten Schwänzen mächtige Symbole wie das ägyptische Auge des Osiris und das Sanskrit-Zeichen des Om umklammerte. Von Holly zur Abwehr von Geistern entworfen, hatte Carson, der einen Abschluss der Academy of Art University hatte, damit ein wirkliches Kunstwerk geschaffen.
Ein paarmal war ich zum Tätowieren mitgegangen, und während Carson Stück um Stück das Tattoo in Abbys Haut stach und mir zwischendurch immer wieder zuzwinkerte, hatte mir Abby unter dem surrenden Geräusch des Tätowiergeräts im Flüsterton ihr Herz ausgeschüttet. Etwa, dass sie sich manchmal Gedanken machte, ob Matt nicht doch zu sehr Holly nachtrauerte und wie lange sie mit dem ersten Mal noch warten sollte. Oder wie oft sie sich gerade mit ihren überfürsorglichen und traditionsbewussten Eltern zoffte, die zwar glücklich darüber waren, dass Abby gute eineinhalb Jahre nach ihrem Selbstmordversuch so aufblühte und ihren Gothic-Look komplett abgelegt hatte. Aber nun machte ihnen zu schaffen, dass ihr erster fester Freund ausgerechnet ein Chinese sein musste. Mit Haaren in Napalm Orange . Was ihr blühte, wenn ihre Eltern je herausfanden, dass sich Abby mit einem gefälschten Perso und ihrem ganzen Ersparten das Tattoo hatte machen lassen, wollten wir gar nicht wissen. Und jedes Mal wenn wir gemeinsam das Tattoostudio wieder verließen, um noch einen Kaffee hier bei Starbucks zu trinken, schwor Abby hoch und heilig, dass Carson total auf mich stand.
Ich mochte Carson mit seinem braunen Wuschelkopf und den warmen braunen Augen, seiner lässigen Art und seinem Witz. Ein bisschen kleiner als ich und ziemlich durchtrainiert, war er mit seinen Tattoos auf den Unterarmen, den Tunneln in den Ohren und dem Silberring in der Unterlippe ein absoluter Hingucker, und ich konnte gut mit ihm über alles Mögliche reden. Aber mehr als das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. So weit war ich noch nicht. Noch lange nicht.
Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit würde ich mich irgendwann wieder verlieben, das sagte mir mein Verstand. Aber ich vermisste Shane an jedem einzelnen Tag, und nie wieder würde ich jemanden so lieben wie Nathaniel, das wusste ich aus tiefstem Herzen. Manchmal, wenn ich es gar nicht mehr aushielt, zog ich die blaugrüne Decke aus der Plastiktüte unten in meinem Kleiderschrank und vergrub mein Gesicht darin. Sie roch muffig und kein bisschen nach Nathaniel, genauso wenig wie die türkisfarbene Strickjacke noch nach Mam roch, und obwohl es mir jedes Mal wehtat, fühlte ich mich trotzdem ein klein wenig getröstet.
Ich war damit zufrieden, mich für Matt und Abby zu freuen und insgeheim darauf zu hoffen, dass sich zwei andere Menschen, die mir nahe standen, vielleicht auch noch
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