In einer anderen Haut
Wettkampfmentalität und Siegeswillen abhandengekommen waren. Alles war so lächerlich simpel gewesen. Sie trug ein Baby in sich, einfach so, und sie hatte es wegmachen lassen, einfach so – zwei gleichermaßen folgenschwere, symmetrische Ereignisse.
Keine Menschenseele wusste, was sie getan hatte, und das Gefühl unmoralischer Überlegenheit, das ihr Geheimnis mit sich brachte, veränderte sie mehr als die ungewollte Schwangerschaft oder deren Abbruch. Für sie war klar, dass sie etwas aufgeben musste, das sie liebte – das Skifahren –, als Buße für ihren Egoismus, ihre Herzlosigkeit. Doch selbst dieses Opfer wirkte heuchlerisch, war viel zu leicht erbracht. Als sie schließlich mit dem Skifahren aufhörte, überraschte es sie, wie wenig ihr der Sport fehlte.
Kevin stand eine monatelange Reha durch, und innerhalb eines Jahres gehörte er wieder der Mannschaft an. Grace hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war, diesem Jungen, dessen Körper sie einst so gut gekannt und dessen Kind sie in sich getragen hatte. Während seiner Genesung hatte sie seine Haut mit Vitamin-E-Lotion gepflegt, damit so wenig Narben wie möglich zurückblieben. Sie hatte an die dünnen, bronzehäutigen Kinder gedacht, die sie eines Tages haben würden, wenn die Zeit dafür gekommen war. Während sein Knie heilte, schworen sie sich, für immer zusammenzubleiben. Doch als sie an der Universität von Toronto angenommen wurde, schrieb sie sich sofort ein, ohne vorher mit ihm zu sprechen, da sie wusste, dass er bereits ein Auge auf ein Mädchen aus dem Schwimmteam geworfen hatte, eine Hübsche mit chlorgebleichtem Haar. Beim Abfahrtslauf des Lebens ging es so rapide bergab, dass sie kaum merkten, wie schnell sie sich vom Start entfernten. Sie brachen ihre gegenseitigen Versprechen so leichthin und schnell, dass ihnen nicht einmal die Zeit blieb, sich betrogen zu fühlen.
2
New York, 2002
Sie war neu in der Stadt – zu einer Zeit, als es etwas bedeutete,
vorher
hier gewesen zu sein. Sie war zu spät gekommen. Sie kannte hier niemanden, hatte niemanden verloren, war nicht Teil der Geschichte. Aber das war kein Problem für sie.
Es war Januar. Sie hatte ein Apartment an der Lower East Side gefunden, durch einen Typ, den sie an der Schauspielschule kennengelernt hatte. Larrys Großmutter hatte dort seit Jahrzehnten gewohnt, weshalb die Miete extrem niedrig war; an Alzheimer erkrankt, lebte sie mittlerweile in einem Pflegeheim, nur selten noch davon überzeugt, dass sie bald nach Hause zurückkehren würde. Ihre Familie hatte die alten Möbel und den Nippes verkauft und Anne die Wohnung zwischenvermietet, zu einem echten Spottpreis, was ihr auch als frisch Zugezogene klar war. Und genau deshalb hatte Larry darauf gehofft, dass sie mit ihm ins Bett gehen würde. Sie nahm die Wohnung und warf die Schule hin.
Gelegentlich kam er vorbei, um die Post seiner Großmutter abzuholen oder sich um die Wasserhähne zu kümmern. «Wir sehen uns ja überhaupt nicht mehr», sagte er mit kaum verhohlener Enttäuschung.
«Ich habe immer so viel um die Ohren», erwiderte sie dann, ohne je zu spezifizieren, womit sie gerade so beschäftigt war.
Larry arbeitete in der Werbung. Er war der Ehemann, der in dem Immobilienspot das neue Haus besichtigte, der Mann, den seineHämorrhoiden schier um den Verstand brachten, ehe er erleichtert aufatmen konnte. Zwischen den Aufnahmen ging er zur Schauspielschule und sprach bei Castings vor. «Ist doch gut, wenn man zu tun hat», sagte er. «Ohne Struktur ist das Leben einfach schrecklich.»
Sie stimmte ihm höflich zu und verließ so schnell wie möglich die Wohnung. Sie wusste, dass er nichts durcheinanderbringen oder herumschnüffeln würde – er war ein grundehrlicher Typ und eben deshalb auch kein besonders erfolgreicher Schauspieler –, ganz abgesehen davon, dass er sowieso nichts Interessantes finden würde.
Tatsächlich hatte sie überhaupt nichts zu tun. Wenn ihr Leben schon keine Struktur hatte, war es zumindest schrecklich angenehm. Sie hatte genug Geld gespart, um sich eine Weile über Wasser halten zu können, während sie sich nach einem Job umsah, und sie war fest davon überzeugt – ohne Konkretes in Aussicht zu haben –, dass sich schon das Richtige ergeben würde. Ihr Vertrauen in die Großzügigkeit des Universums hatte etwas Mystisches an sich und blieb unerschütterlich. Sie saß von morgens bis abends in Cafés an der Houston Street, las Stanislawski und sah die Casting-Angebote in der
Weitere Kostenlose Bücher