In einer anderen Haut
«Ich war die ganze Zeit am Set. Sie haben mich wahrscheinlich bloß nicht bemerkt.»
Anne verdrehte die Augen. «Ich bin zwar egozentrisch, aber bestimmt nicht blind.»
Die Produktionsassistentin schien die Ironie nicht verstanden zu haben; sie nickte, als handele es sich um eine Feststellung. Im selben Augenblick fegte eine Stylistin herein, um Annes Make-up aufzufrischen, und versperrte ihr die Sicht. Sie hörte nur, wie das Mädchen sagte: «Entschuldigen Sie bitte. Es tut mir wirklich leid.»
«Was?»
«Ich wollte Ihnen nur das hier bringen», sagte die Produktionsassistentin, nahm einen hellbraunen gefütterten Umschlag aus ihrer Tasche und reichte ihn ihr.
Ratlos musterte Anne den Umschlag.
«Ihre Fanpost», sagte das Mädchen. Ihr Walkie-Talkie knisterte, und sie wandte sich zum Gehen.
Während die Stylistin weiterarbeitete, überflog Anne die Briefe. Es war das erste Mal, dass sie Fanpost erhielt: Es schrieben junge Mädchen, Frauen mittleren Alters, Schüler, die sie zu ihren Abschlussfeiern einluden, Männer, die ihr versprachen, ihre Frauen auf der Stelle zu verlassen, wenn sie nur einmal mit ihnen ausgehen würde, sie hätten sofort gespürt, dass eine tiefere Verbindung, eine Seelenverwandtschaft zwischen ihnen bestand. Für einen optimistischen Blick auf die Zukunft der menschlichen Rasse waren Fanbriefe nicht gerade das ideale Mittel. Sie ging den Stapel durch, ohne, wie sie glaubte, nach etwas Bestimmtem zu suchen, bis sie den Brief sah. Er war in Utica, New York, abgestempelt, und auf dem Umschlag stand Annes Name in der runden, schnörkeligen Handschrift eines Teenagermädchens.
Ihr erster Impuls war, den Brief beiseitezulegen und ihn erst später zu lesen, doch dann gelangte sie zu dem Schluss, dass sie ihmdamit zu viel Bedeutung zumaß. Am besten, sie las ihn jetzt gleich und warf ihn dann weg.
Es gelang ihr gerade, die Worte
Annie, wir brauchen Geld
zu lesen, ehe sie eine Panikattacke bekam und das Blatt Papier zusammenknüllte. Doch obwohl sie nicht weitergelesen hatte, stürmte eine Fülle an Worten auf sie ein:
Fernsehen
und
bitte
und
Kann ich
und
Baby
, und jedes einzelne löste einen so starken Widerwillen in ihr aus, dass ihr speiübel wurde. Wieso hatte sie überhaupt einen Blick riskiert, wenn sie mit diesem Teil ihres Lebens nichts mehr zu tun haben wollte?
«Soll ich dir was zur Beruhigung geben, Süße?», fragte die Stylistin. «Bitte keine Tränen, wenn’s geht, das ruiniert bloß dein Makeup.»
Es folgten zwei weitere Wochen, in denen sie rund um die Uhr mit Arbeit, Training, Hungern, Solarium und Anproben beschäftigt war. Ihr Körper wurde neu modelliert, ihre Haut, jeder Muskel rekonfiguriert. Nachts träumte sie von Cheeseburgern und Bananensplits. Sie hatte nie Probleme damit gehabt, ihr Gewicht zu halten, aber was jetzt passierte, war eine komplett neue Herausforderung, auf die sie sich mit vollem Einsatz stürzte. Sie musste sich nicht mal Mühe geben, den Anruf und den Brief aus ihren Gedanken zu streichen; ihr Körper war viel zu sehr damit beschäftigt,
alles
um sie herum zu vergessen.
Sie freundete sich mit der Produktionsassistentin an, die nach der Arbeit manchmal mit speziellen Diät-Fertigmahlzeiten vorbeikam. Sie sahen sich Filme an, und gelegentlich übernachtete die Produktionsassistentin auf der Wohnzimmercouch. Sie hieß Lauren, aber in Annes Gedanken blieb sie weiterhin einfach die Produktionsassistentin.Sie fühlte sich wohl, wenn sie das Mädchen nach dem Aufwachen vorfand, und brachte ihr dann eine Tasse Kaffee ans Sofa, froh, dass sie wenigstens einmal am Tag etwas für jemand anderen tun konnte.
Allerdings war sie ziemlich überrascht und auch ein wenig verärgert, als Lauren eines Nachmittags mit einem Telefon in der Hand anrückte und erneut sagte, ihre Schwester sei dran.
«Oh, bitte», sagte Anne. Sie trug ein Lederbustier und Pumps mit Zwölf-Zentimeter-Absätzen, war kaum in der Lage, sich zu bewegen. «Hatte ich dir nicht gesagt, dass ich keine Schwester habe?»
«Schon klar, aber sie ruft immer wieder an», erwiderte die Produktionsassistentin. «Ehrlich, Anne, die Produzenten haben es auch schon mitgekriegt und fragen sich, was da nicht stimmt. Ob da irgendwas im Busch ist, wovon die Medien Wind bekommen könnten. Sie wollen keinen Druck auf dich ausüben und sind sich bewusst, dass so gut wie jeder irgendwelche familiären Probleme hat. Aber sie wüssten eben gern, was Sache ist.»
Anne verengte die Augen zu Schlitzen. «Gib mir
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