In einer anderen Haut
das Telefon», sagte sie und hielt es ans Ohr. Am anderen Ende konnte sie jemanden atmen hören, und ein leichtes Übelkeitsgefühl stieg in ihr auf, als ein langer, leiser Seufzer an ihr Ohr drang, der sich irgendwie anhörte wie eine Decke, die über ein Bett gebreitet wurde. «Hallo?», sagte sie.
Keine Antwort, nur ein weiteres Seufzen, als würde ihr ein Gespenst einen Telefonstreich spielen.
«Hallo?», wiederholte sie.
Aus der Leitung drang unterdrücktes Weinen. Das Geräusch traf sie so unerwartet und ging ihr derart durch Mark und Bein, dass sie das Telefon fallen ließ. «Hoppla!», entfuhr es ihr.
Hastig hob Lauren es wieder auf und hielt es ans Ohr.
Ihr Gesichtsausdruck verriet Anne, dass die Leitung nicht unterbrochen worden war. «Verdammt noch mal», zischte sie leise und nahm das Telefon abermals entgegen.
«Annie», platzte Hilary unvermittelt heraus. «Bitte leg nicht auf. Ich habe dich im Fernsehen gesehen. Du musst uns helfen!»
Anne wurde flau im Magen. «Was ist denn passiert?»
«Alan hat seinen Job verloren, und dann ist auch noch das Baby krank geworden. Wir haben keine Versicherung, das Krankenhaus will Tausende von Dollars von uns, und meine Eltern können nichts für uns tun.»
«Wo bist du?»
«Wir sind zu Hause, immer noch hier.»
«Das kriegt ihr schon hin», sagte Anne und dachte an all die Lügen, die Hilary ihr aufgetischt hatte, ganz abgesehen davon, dass sie sich nicht einmal gemeldet hatte, als das Baby geboren worden war. Worte aus der Vergangenheit, ewig war es her, kamen ihr wieder in den Sinn – nicht das hysterische Kreischen ihrer Mutter, sondern Grace’ ruhige, tröstende, nervtötend professionelle Therapeutenstimme.
Du bestimmst selbst über dein Leben
. «Ruf hier nicht noch mal an», sagte sie und reichte Lauren das Telefon, die es mit ausdruckslosem Nicken entgegennahm und loszog, um ihr einen frischen Kaffee zu holen.
In New York war es Spätherbst. Das ganze Jahr über war sie nur einmal hierher zurückgekehrt, nachdem der Sender grünes Licht für die Serie gegeben hatte und sie von einem Presse-Lunch zur nächsten Abendveranstaltung weitergereicht worden war, stets dieselben Fragen im Ohr – ob sie genauso sei wie die Figur, die sie in der Serie spielte, wie die romantischen Szenen mit diesem oder jenem superattraktiven Gaststar gelaufen seien, ob sie einen Freund im wirklichen Leben habe und ob er eifersüchtig sei. Spätabends war sie dann ins Bett gefallen, sogar zu müde, um noch ein paar Minuten fernzusehen,und am nächsten Tag war es nahtlos so weitergegangen, drei Tage lang, und ehe sie sichs versah, war sie schon wieder auf dem Weg zum Flughafen gewesen, ohne auch nur einen kleinen Spaziergang unternommen oder sonst irgendetwas von New York gesehen zu haben.
Diesmal war alles anders; es war kälter und die Stadt trostloser, als sie sie in Erinnerung hatte, bar jeder Farbe und Leuchtkraft, die Kalifornien jeden Tag aufs Neue eine Atmosphäre von Vitalität und Lebensfreude verlieh. Sie war wegen einiger Termine und eines Fotoshootings für eine Zeitschrift hergekommen, hatte allerdings noch ein paar Stunden Zeit, bis es so weit war. Sie verließ ihr Hotel in Midtown, ging ziellos Richtung Süden, ließ sich einfach treiben, versuchte lediglich, die allzu belebten Straßen zu meiden. Sie hatte schon immer eine Schwäche für die großen Kaufhäuser in der Fifth Avenue gehabt; sie erinnerten sie an alte Filme und den natürlichen Glamour einer Zeit, in der alles einfacher gewesen war. Sie ging ein Stück weit nach Osten, dann wieder nach Süden, vorbei am Gramercy Park und dem Union Square, und ehe sie sichs versah, stand sie vor einem Haus und stellte fest, dass sie zu den Fenstern ihres alten Apartments aufblickte.
Hatte sie tatsächlich einer schmuddeligen Ausreißerin und ihrem pickeligen Bauarbeiterfreund erlaubt, bei ihr zu wohnen, sogar in ihrem Bett zu schlafen? Ihr war, als wäre all das im Leben einer anderen passiert.
Die Leute, die das Gebäude betraten oder verließen, waren allesamt Fremde; sie erspähte nicht eine der alten Damen, die zu ihrer Zeit dort gewohnt hatten. Vielleicht hatte der Vermieter ihnen gekündigt oder das Haus verkauft. Hinter den Fenstern ihrer Wohnung war nichts zu sehen.
Der vorwinterliche Wind fegte Blätter von den Bäumen; es war ein kühler Tag und sie nicht warm genug angezogen. Sie zog ihre Jacke enger um sich und setzte ihren Weg fort. Ein Stück weiter hörte sie ein Baby jämmerlich schreien,
Weitere Kostenlose Bücher