In einer anderen Haut
und dann sah sie die Mutter,die ihr mit einem Kinderwagen entgegenkam. Urplötzlich schoss ihr der verrückte Gedanke durch den Kopf, es könnte Hilary sein, doch diese Frau war älter und machte einen ausgesprochen wohlhabenden Eindruck; sie trug einen Kaschmirschal, und ihr langes Haar floss in einer Kaskade schimmernder Locken über ihre Schultern. Das Baby hatte einen großen runden Kopf, den es hin und her bewegte. Der Wind hatte seinen Wangen eine rosige Farbe verliehen; es sah aus wie ein Kind aus einem alten Bilderbuch, pausbäckig und mit Doppelkinn, ein winziger Clown in einem zu großen weißen Anzug. Als Mutter und Kind an Anne vorbeigingen, hörte das Baby zu schreien auf und starrte sie mit großen hellblauen Augen an.
Kaum waren sie an ihr vorbei, fing der Kleine erneut zu schreien an; die Mutter nahm ihn aus dem Wagen, hielt ihn an ihre Brust und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Die Vorstellung, dass Hilary jetzt dieselben Dinge tat, kam ihr überaus seltsam vor – es war, als wäre sie über die Schwelle einer anderen Welt getreten, einer Welt, die Anne vollkommen fremd war. Nur selten – eigentlich so gut wie nie – dachte sie an jene Wochen zurück, als sie selbst schwanger gewesen war, oder stellte sich vor, wie alt ihr Kind heute wäre, wenn sie es behalten hätte. Sie konnte sich nicht an körperlichen oder seelischen Schmerz erinnern, nur an die nackte Panik, die sie empfunden hatte, wie ein in einem Zimmer gefangener Vogel, der verzweifelt mit den Flügeln schlägt.
Alles schien auf reinem Zufall zu beruhen. Ein Kind wird in die Welt gesetzt, ein anderes muss sie wieder verlassen. Die Dinge passierten einfach, ohne besonderen Grund.
An die Ereignisse, die zu ihrer Schwangerschaft geführt hatten, dachte sie noch seltener zurück. Nach der Schule hatte sie öfter im Faubourg herumgehangen, ihre Hausaufgaben gemacht und Kaffee getrunken, um sich nicht die Streitereien ihrer Eltern anhören zu müssen. Für gewöhnlich erzählte sie ihnen, sie sei bei einer Freundin, noch in der Schulbibliothek oder bei ihrer Therapeutin. InWahrheit wollte sie einfach nur ein, zwei Stunden allein sein, bitteren Kaffee trinken, von irgendeinem Typen eine Zigarette schnorren und so tief inhalieren, dass sie spürte, wie der Rauch ihre Lungen versengte. Anschließend ging sie, schwindelig von Kaffee und Nikotin, aufs Klo und ritzte sich mit kleinen, präzisen Schnitten. Sie nannte es «operieren», tauchte den Finger in die Tropfen und leckte das Blut ab; es war, als würde sie sich durch den Geschmack ihrer selbst bewusst werden, sich damit gleichsam vergewissern, dass sie existierte. Wenn sie dann das Einkaufszentrum wieder betrat, fühlte sie sich irgendwie klebrig, schmutzig. Es war ein Aufbegehren gegen ihr sonst so perfekt geregeltes Leben.
An einem jener Tage kam sie von der Toilette und schnorrte einen im Gastronomiebereich sitzenden Franzosen, der
La Presse
las und einen
allongé
trank, um eine Zigarette an. Er war alt, trug einen Anzug, hatte grau meliertes Haar an den Schläfen und ließ den Blick mit dem typischen Lächeln eines älteren Herrn anerkennend über ihre Brüste wandern.
«Qu’est-ce que tu fais dans les toilettes?»
, fragte er.
«Sorry.» Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie die Frage nicht verstanden. Er hatte ihr die Zigarette bereits hingehalten, doch nun ließ er sie in der hohlen Hand verschwinden und verschränkte die Arme. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte. Ihr Mantel war offen und darunter ihre Schuluniform zu sehen, und natürlich bemerkte sie, wie sein Blick über ihren Faltenrock und die Wollstrümpfe glitt. Auch wenn die Schulmädchennummer noch so ein Klischee war – sie zog immer.
«Was hast du so lange auf dem Klo gemacht?», wollte er auf Englisch wissen. «Das war ja eine halbe Ewigkeit.»
«Ich habe mich geschminkt», erwiderte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als er sie skeptisch musterte. Urplötzlich – ihr blieb keine Zeit zu reagieren – streckte er die Hand aus, schob ihre Bluse hoch und zog sie nach einem kurzen Moment wieder herunter. Noch lange Zeit später hatte sie sich gefragt, wie er auf dieIdee gekommen war, genau diese Stelle in Augenschein zu nehmen, wo die jüngsten Schnitte parallel zu ihrem Bauchnabel verliefen. Das Papierhandtuch, das sie auf die Schnitte gepresst hatte, fiel zu Boden. Ein Flackern huschte über sein Gesicht, und sie begriff, dass ihn das Blut noch mehr anmachte als ihr Rock, die weiße Bluse oder
Weitere Kostenlose Bücher