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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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ihre sechzehn Jahre. Eben hatte er noch mit ihr gespielt, doch jetzt wurde es ernst. Er wollte etwas von ihr.
    Er stand auf. Er war nicht viel größer als sie, aber älter, ein Mann, und sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. «Komm mit», sagte er. «Ich will dir etwas zeigen.»
    Er führte sie die Treppe hinauf und einen Korridor entlang in einen Teil des Einkaufszentrums, der sich noch im Bau befand; die Geschäfte hier hatten noch nicht eröffnet, alles war dunkel und leer. Sie fragte sich immer noch, was er ihr zeigen wollte – sie hoffte, dass es irgendwelche Drogen waren, da sie Lust hatte, mal etwas Neues auszuprobieren –, als er plötzlich seinen Mund auf ihre Lippen presste, mit einer Hand die Schnitte unter ihrer Bluse betastete und wieder aufriss, während er sie mit der anderen gegen die Wand drückte. Dann zog er ihr das Höschen herunter, öffnete seine Hose, und mit einem Mal war er in ihr.
    Er machte keine Anstalten, ihr den Mund zuzuhalten, und sie rief nicht um Hilfe. Hinterher war sie sich nicht einmal sicher, ob sie sich gewehrt hatte. Alles geschah so schnell. Sie war ein braves Mädchen, das seine Hausaufgaben machte, seinen Eltern gehorchte und sich für Geschenke schriftlich bedankte. Sie hatte keine Übung darin, sich jemandem zu widersetzen.
    Er stöhnte an ihrer Schulter, und dann war es vorbei. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, machte er seine Hose zu und ließ sie einfach stehen. Ihr Schlüpfer hing zwischen ihren Knien, und ihre Beine zitterten, als sie ihn wieder hochzog. Als er verschwunden war, wurde ihr bewusst, dass er ihr nicht mal die Zigarette gegeben hatte.
    Sie erzählte niemandem davon; ihr Geheimnis sollte vor allerWelt für immer verborgen bleiben. Später gestand sie ihrer Therapeutin, dass sie schwanger war. Grace war eine stille, dunkelhaarige Frau mit Rändern unter den Augen, die erdfarbene Pullover und schlichten Silberschmuck trug, und Anne konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie mit jemandem ins Bett ging oder jemals in ihrem Leben etwas Schlimmes angestellt hatte. Im selben Moment, als sie Anne von ihrer Schwangerschaft erzählte, bereute sie es auch schon. Graces Augen waren Monde voller Mitleid und Sorge, und natürlich wollte sie ihr unbedingt helfen. Doch Anne, sechzehn Jahre alt, außer sich vor Hass, zu Hause rund um die Uhr dem Wahnsinn ihrer hoffnungslos unglücklichen Eltern ausgeliefert, wusste ganz genau, dass nichts, was Grace sagte, ihr irgendwie weiterhelfen konnte. In gewisser Weise war ihr gesamtes Leben seither nichts weiter als eine allumfassende Zurückweisung jeglicher Bemühungen gewesen, ihr wie auch immer unter die Arme zu greifen, schönen Dank auch, und fickt euch ins Knie.
    Wenn sie nun an jene Zeit und den Vorfall im Faubourg-Einkaufszentrum zurückdachte, empfand sie keinerlei Zorn mehr. Es war Jahre her, und welche Wunden sie auch davongetragen haben mochte, sie waren längst verheilt. Was sie damals erlebt hatte, war keine Entschuldigung für das, was aus ihr geworden war, nur eine Erinnerung von vielen; doch zum ersten Mal war es ihr gelungen, alles hinter sich zu lassen.

    Seit sie wieder in New York war, kam ihr das Leben in L. A. seltsam unwirklich vor; auch verspürte sie keinerlei Sehnsucht nach Kalifornien. Sie verbrachte den Tag damit, durch ihr altes Viertel zu streifen, sah sich Schaufensterauslagen an und beobachtete die Leute auf den Straßen. Ihr Hotel in Midtown erschien ihr wie eineschlechte Luftspiegelung, wie etwas, das nichts mit ihrem Leben zu tun hatte. Sie aß gerade ein paar kleine Frühlingsrollen im Panda Kitchen, als sie beschloss, ihre Voicemail abzuhören. Sie hatte siebzehn neue Nachrichten, die meisten von Leuten wegen der Termine, die sie sausen gelassen hatte. Fünf waren von Adam, der dringend zurückgerufen werden wollte. Sie löschte alle, ohne sie sich auch nur halb anzuhören, und es erfüllte sie mit einiger Befriedigung, ihm mitten im Satz das Wort abzuschneiden. Die letzte Nachricht war von Julia, die ihr Treffen zum Abendessen bestätigte. Anne schickte ihr eine SMS, dass sie leider verhindert sei.
    Sie leckte sich die salzigen Reste der Frühlingsrollen von den Fingern. Am nächsten Morgen hatte sie ein Fotoshooting und wusste schon jetzt, dass es Probleme geben würde – zu viel Salz ließ ihre Lider anschwellen, und ihre Haut fühlte sich dann an wie Krepppapier. Aber vielleicht würde sie den Termin ja ebenfalls platzen lassen. Vielleicht, dachte sie

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