Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
Vom Netzwerk:
wie sie verblüfft die Lippen schürzte, während sie in die Ferne blickte. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Zunge über die aufgespritzten Lippen und wandte sich ab. Es war, als würde sie vor den versammelten Gästen masturbieren.
    Sie verzog sich wieder nach draußen, ignorierte die aufmunternden Rufe der anderen. Zum ersten Mal fragte sie sich, wie ihre Zukunft aussehen würde. Sie hatte drei Episoden abgedreht und einen Vertrag über zehn weitere Folgen in der Tasche, aber sie war auch gewarnt worden, dass der Sender jederzeit den Stecker ziehen konnte. Inzwischen hatte sie diese Unkenrufe so oft gehört, dass sie mehr oder weniger von einer Pleite ausging. Die Vorstellung, dass alles glattlaufen würde – dass dies künftig ihr Leben sein sollte –, war erschreckender als die Aussicht auf einen Fehlschlag.
    Julia meldete sich jeden Tag, doch inzwischen hatte Anne eine neue Agentin in L. A., Molly Senak, die ihr ein neues Drehbuch nach dem anderen schickte. Die für sie vorgesehenen Rollen waren immer dieselben: die Nutte, die am Ende sterben muss, die Freundin,die nach den ersten Minuten ihre Sachen packt, die Verführerin, die ein doppeltes Spiel mit dem mit Fehlern behafteten Helden spielt. «Gelegenheiten, um im Kleinen zu glänzen», nannte Molly diese Rollen. So also sah das Fundament einer Filmkarriere aus.
    Sie sehnte sich nach New York, wenn auch weniger nach dem Alltag dort als dem vertrauten Gefühl, sich täglich von Neuem durchschlagen zu müssen. Und öfter, als sie erwartet hätte, ertappte sie sich sogar dabei, wie ihre Gedanken nach Montreal zurückschweiften. Sie sperrte sich dagegen, an ihren Vater zu denken, doch manchmal erinnerte sie sich an ihre Mutter, ihr früheres Zuhause, ihr altes Zimmer, sogar an ihre ehemalige Therapeutin, die, wie ihr nun aufging, damals wohl der einzige Mensch gewesen war, der einer echten Freundin am nächsten kam. Um ihr Selbstvertrauen zu wecken, hatte Grace ihr einst geraten, einfach so zu tun, als sei sie ein Star, als sei sie bereits in der Zukunft ihrer Träume angekommen. Nun fragte sie sich, ob vielleicht ein paar von den Menschen aus ihrem früheren Leben gerade zusahen. Ob sie stolz auf sie waren.
    Eine Viertelstunde nachdem der Regisseur den Riesenfernseher ausgeschaltet hatte und um sie herum immer noch Champagnerkorken knallten, verließ Anne die Party. Zurück in ihrem Gästehäuschen, fand sie auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht von Diane vor, die ihr förmlich gratulierte. Während sie ihrer Stimme lauschte, kam sie einen Moment lang schier um vor Schmerz und Sehnsucht, verdrängte ihre Gefühle aber. Das tat sie jeden Tag, und jedes Mal war es einfacher, selbstverständlicher, weniger qualvoll.

    Die Kritiken waren schlecht, die Quoten gut. Sie brachte die nächsten Folgen hinter sich, arbeitete sechzehn Stunden am Tag und perfektionierte die Kunst des Power-Nappings; sie legte sich einfach auf das Sofa in ihrer Garderobe, und schon war sie eingeschlafen. Eines Tages hielt sie gerade wieder ein Nickerchen, als eine Produktionsassistentin an die Tür klopfte und hereinkam. Sie war um die zwanzig, eine grazile, schüchterne junge Frau, die ihr Studium an der UCLA abgebrochen hatte. Anne konnte sich nicht an ihren Namen erinnern.
    «Entschuldigen Sie die Störung», sagte sie.
    Anne gähnte. «Was gibt’s denn?»
    «Ein Anruf für Sie», sagte sie. «Das Produktionsbüro hat ihn weitergeleitet.» Sie hielt ihr ein Telefon hin. «Ich wusste erst nicht, was ich tun sollte, aber die Frau hat schon überall angerufen, beim Sender und bei der Produktion. Sie lässt sich einfach nicht abwimmeln. Na ja, vielleicht ist es bloß eine Verrückte, aber was, wenn nicht? Was, wenn sie die Wahrheit sagt? Ich hoffe, Sie sind nicht sauer auf mich.»
    Anne musterte sie unverwandt und nahm das Telefon entgegen, ohne weiter darüber nachzudenken.
    «Es tut mir wirklich leid», sagte die Produktionsassistentin. «Ich war bloß nicht sicher, was ich tun sollte. Die Frau hat gesagt, sie wäre Ihre Schwester.»
    «Ich habe keine Schwester», sagte Anne. Sie wog das Telefon einen Moment lang in der Hand, ehe sie die rote Taste drückte.
    Eine Woche später tauchte das Mädchen erneut in Annes Wohnwagen auf. Sie stand so lange schweigend vor ihr, dass Anne zwangsläufig das Wort ergreifen musste, wenn auch nur aus Ungeduld.

    «Ich habe dich schon seit einer Weile nicht mehr gesehen», sagte sie. «Alles okay?»
    Die Produktionsassistentin verzog das Gesicht.

Weitere Kostenlose Bücher