In einer anderen Haut
ihr zu Wort gemeldet hatte:
Für mich nicht
.
Wie auch immer, der Lumpenhaufen gab keinen Ton von sich. Resigniert wandte sie sich um und ging zurück in ihre Wohnung.
Es war die Scheiße, die das Fass zum Überlaufen brachte. Sie war bei einer Probe gewesen, und als sie drei Stunden später zurückkam, lagen am anderen Ende des Hausflurs ein paar fein säuberlich gefaltete Seiten aus dem Kulturteil der
New York Times
. Der Gestank war unverkennbar.
«Du lieber Himmel», sagte sie. «Das darf doch wohl nicht wahr sein.»
Sie holte tief Luft, hielt den Atem an, ergriff einen Zipfel der Wolldecke und zog. Wer auch immer sich darunter verkrochen hatte, zog ebenfalls, und ein paar Sekunden lang war es wie beim Tauziehen. Anne war drauf und dran aufzugeben, weil sie sich vor der schmutzigen Decke ekelte, doch dann ließ die andere Person los, und sietaumelte rückwärts und hätte sich um ein Haar auf den Hintern gesetzt. Als ihr die Decke aus der Hand glitt, sah sie erschrocken, dass es sich um ein Mädchen handelte. Ein blondes, stämmiges Mädchen im Teenageralter mit runden, von Pickeln übersäten Wangen.
«Ich brauche was zu essen», sagte das Mädchen, verkroch sich in ihrem grünen Parka und schlang die Arme um ihre bis ans Kinn gezogenen Knie, als wolle sie sich so klein machen wie die Zeitung in der Ecke. Sie roch nach Müll und Schimmel, wie etwas, das langsam vor sich hin faulte.
«Ich habe Hunger», beharrte das Mädchen. Dann fügte sie hinzu, als könne sie Annes Gedanken lesen: «Außerdem stinke ich. Kann ich bei Ihnen duschen? Ich fühle mich total eklig.»
Sie sprach so unverblümt, so geradeheraus, dass es Anne einen Moment lang die Sprache verschlug. Sie hatte einen älteren Mann erwartet, vielleicht einen leicht oder sogar komplett durchgeknallten Kriegsveteranen, der schon lange auf der Straße lebte. Nie im Leben wäre sie auf die Idee gekommen, dass es sich um eine Ausreißerin – ein Mädchen, das neben seinem eigenen Kot schlief – handeln könnte.
«Wenn ich dich bei mir duschen lasse», sagte sie, «gehst du dann in eine Notunterkunft? Ich bringe dich hin, wenn du willst.»
Das Mädchen starrte sie an; es war unmöglich zu erraten, was ihr durch den Kopf ging. «Ich habe Hunger», sagte sie nur.
«Ich habe etwas oben», sagte Anne. «Okay?»
Das Mädchen kam mühsam auf die Beine und schlang den Parka um die Schultern. Sie war müde und bereit, ihr nach oben zu folgen, vielleicht sogar gerne. Als sie an Mrs. Bondarchuks Tür vorbeikamen, klopfte Anne leise, um ihr so Bescheid zu geben – obwohl die alte Dame wahrscheinlich ohnehin schon durch den Spion spähte. Dafür bist du mir was schuldig, dachte sie.
Das Mädchen betrat die Wohnung, als wäre sie dort zu Hause. Sie trug eine dreckige Jeans, Turnschuhe und einen blauen Pullover, und Anne blieben nur ein paar Sekunden, um zu raten, wie alt sie sein mochte – fünfzehn, vielleicht sechzehn? –, ehe sie im Badezimmer verschwand und die Tür hinter sich schloss, ohne um Erlaubnis zu fragen. Kurz darauf hörte sie, wie die Dusche lief.
«Okay», sagte sie laut. Sie ging in die Küche, stellte Brot, Erdnussbutter und Marmelade auf den Tisch. Essen gehörte nicht zu ihren Leidenschaften; sie kochte so gut wie nie, und in ihrem Küchenschrank befanden sich lediglich Flyer vom Asia-Lieferservice und ein paar übrig gebliebene Beutel Sojasauce. In den anderen Wohnungen vertrieben sich die alten Damen die Zeit damit, Suppen zuzubereiten und Kartoffeln zu kochen, damit sie etwas bereitstehen hatten, wenn unverhofft Verwandte hereinschneiten (was aber nur selten vorkam); das gesamte Treppenhaus stank nach guter alter Hausmannskost. Womöglich hatte das Mädchen darauf gehofft, eine der alten Damen würde sie hereinbitten.
Anne begann ein Sandwich zuzubereiten, aber dann fiel ihr ein, dass das Mädchen etwas zum Anziehen brauchte, wenn sie aus der Dusche kam. Sie kramte eine selten getragene Jogginghose und ein paar zu weite T-Shirts aus ihrer Kommode; das Mädchen war um einiges kräftiger gebaut als Anne. Dann betrat sie das Bad. «Ich lege ein paar Sachen für dich hierher», sagte sie, doch der Schatten hinter dem Duschvorhang reagierte nicht. Zurück im Wohnzimmer, wartete sie. Solche Umstände war sie nicht gewöhnt. Sie hatte nie Gäste; wenn sie Männer mit hierher brachte, gab sie ihnen, was sie wollten – sie ging mit ihnen ins Bett –, aber verschwendete nie einen Gedanken daran, ob sie hungrig oder durstig waren. Wenn
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