In einer anderen Haut
Zeitung durch. Bei jedem Vorsprechen erntete sie lediglich Kopfschütteln und wurde mit den immergleichen Worten abgespeist: «Diese Rolle passt nicht zu Ihnen, aber glauben Sie mir, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die richtige für Sie kommt.» Sie glaubte den Casting-Leuten. Inzwischen hatte sie die Phrase so oft gehört, dass die Worte
eine Frage der Zeit
gleichsam Gestalt annahmen, wie eine weiche Decke, die ihr Trost und Wärme spendete.
Schließlich nahm sie einen Job bei einer Zeitarbeitsagentur in Midtown an, in erster Linie, weil ihr Kellnern zu klischeehaft vorkam. Dort gab sie Daten ein, wenn sie nicht gerade zu einem Vorsprechen musste. Im Wartebereich sah sie immer die gleichen Leute, die für sie das wurden, was sie noch am ehesten als Freunde hätte bezeichnen können, auch wenn sie genau wusste, dass es keine waren. Dann wurde sie als Elfe in einer
Sommernachtstraum-
Aufführung besetzt – nach 9/11 musste sie dabei natürlich einenTurban und eine Handgranate tragen. Doch obwohl es eine ausgesprochen scheußliche Aufführung war, spürte sie die Blicke des Publikums, das Scheinwerferlicht auf ihrem Gesicht, während das Blut schneller und schneller durch ihre Adern zu rasen schien.
Nach zehn Aufführungen wurde das Stück wieder abgesetzt, und so hatte sie abends wieder frei. Larry war schon seit einiger Zeit nicht mehr vorbeigekommen. Eines Abends sah sie ihn in einer Bar an der Avenue A, wo er Händchen haltend mit einer Frau an einem kleinen Tisch saß, sein Blick glasig vor Glück. Natürlich bedeutete er ihr nichts, doch der Anblick versetzte ihr trotzdem einen Stich. Am Abend ging sie zu einer Lesung in der New School. Der Dichter war ein Ire mittleren Alters mit gespenstischen blaugrünen Augen. Seine Gedichte handelten allesamt vom Scheitern seiner Ehe und dem Verlust seines Glaubens an die Welt, den er eigentlich schon vorher verloren zu haben glaubte. Das war das Schlimmste, schienen seine Gedichte auszusagen: Man glaubte, sich mit Zynismus vor Verletzungen schützen zu können, um doch nur erkennen zu müssen, dass es eine andere, geheime Verletzlichkeit der Seele gab. Anne saß in der ersten Reihe, kaufte hinterher sein Buch und sagte ihm, dass seine Gedichte ihr aus dem Herzen gesprochen hätten. «Ich habe mich weniger allein gefühlt», sagte sie.
Sie gingen auf einen Drink in die nächste Bar. Der Dichter war ein reizender, sanfter Mann, der viel redete und weinte, als er von seiner verstorbenen Mutter erzählte. Er stellte Anne keine Fragen über ihr Leben, aber es machte ihr nichts aus. Einer ihrer Lehrer hatte ihr erklärt, dass es bei der Schauspielerei auch ums Zuhören ging: Man konzentrierte sich auf die andere Person in der jeweiligen Szene und ließ sie das Geschehen diktieren. Man reagierte, ging aufden anderen ein; so musste man nicht von vornherein festlegen, wie man seine Rolle spielen wollte. Und genauso verhielt sie sich an jenem Abend. Während sie ihm zuhörte, wurde sie zur einzigen Frau auf der ganzen Welt, die ihn verstand. Sein zwei Tage alter Salz-und-Pfeffer-Bart strich über ihre Wange, als sie sich küssten; sein Atem roch säuerlich nach Rotwein. Später, als sie in ihrem Bett gelandet waren, fluchte er in einem fort über den Typen, der seine Frau vögelte. Am nächsten Morgen entschuldigte er sich, er habe wohl zu viel gequatscht.
«Überhaupt nicht», erwiderte sie. «Es war genau, was ich brauchte.» Womit sie die Stöße, die Wucht eines anderen Körpers meinte, eine Kollision, die ihr das Gefühl gab, am Leben zu sein. Sie hatte benutzt werden wollen; sie brauchte niemanden, der ihr zuhörte oder sich um sie kümmerte. Sie brauchte nicht mal jemanden, der sie überhaupt bemerkte.
«Schöne Frauen wie du sind ein verdammter Albtraum», schnauzte sie ein Betrunkener eines Abends nach der Arbeit in einer schummrig beleuchteten Bar in der Fiftieth Street an. Sie hatte sich von ihm einen Drink spendieren lassen, dann aber eine Einladung zum Abendessen ausgeschlagen, weil ihr der Geruch seines Rasierwassers nicht gefiel. Nun war er sauer. «Ihr seid doch alle gleich. Außen hübsch, innen hohl.»
«Von wegen hohl.» Sie schenkte ihm ein süßes Lächeln. Ihr Inneres war geschmolzen, radioaktiv. Unter der Oberfläche war sie krank, der letzte Dreck, verseuchte sie sich selbst. Aber das war etwas anderes, als hohl zu sein. Etwas ganz, ganz anderes.
An einem Tag Ende Februar kam sie gegen sechs Uhr abends nach Hause. Der irische Dichter hatte ihr
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