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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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eine Rolle in einem Stück über die Große Hungersnot in Irland vermittelt. Bei den Proben musste sie sich in einem eisigen Keller auf dem Boden hin und her wälzen, und anschließend war sie nicht nur völlig erschöpft, sondern verspürte tatsächlich nagenden Hunger.
    Im Hausflur stank es. Der Vermieter beschäftigte den Hausmeister vorübergehend nicht mehr, um den Bewohnern der mietpreisgebundenen Apartments das Leben so unangenehm wie möglich zu machen. Die Flure waren nicht geputzt, im Treppenhaus funktionierten die Glühbirnen nicht mehr, und es gab niemanden, den man in einem Notfall hätte anrufen können. In der Ecke, gleich unter den Briefkästen, lag etwas, das Anne zunächst für einen Haufen Lumpen hielt, bis sie erschrocken feststellte, dass es sich um einen Menschen handelte.
    Derjenige, der dort lag, bewegte sich leicht unter einer braunen Wolldecke und einem grünen Parka, aus denen er sich eine Art Höhle gebaut hatte. Draußen war es feucht und stürmisch; es herrschte eine schneidende Kälte, die einem durch Nähte und Knopflöcher geradewegs in die Knochen fuhr. Sie kümmerte sich nicht weiter um ihn.
    Am nächsten Morgen aber war er immer noch da. Die Großmütter des Hauses – fast alle Wohnungen wurden von kleinen alten Damen bewohnt – gluckten unruhig auf ihren Etagen zusammen und tuschelten. Der Hausmeister ging natürlich nicht ans Telefon, und so hatte eine der alten Ladies bei der Polizei angerufen. «Die haben mich ausgelacht, die Mistkerle», sagte sie. «Sie haben mich damit abgespeist, sie hätten Wichtigeres zu tun.» Andere Mieter, anscheinend nervös, was ihren eigenen Aufenthalt im Haus oder im Land anging, schlichen mit gesenkten Köpfen vorbei, ohne die fremde Person im Hausflur auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Theoretisch hätte sich Anne genauso verhalten können. Sie wohnte hier illegal zur Untermiete, und nur Larrys Konfliktscheuhielt ihn davon ab, sie auf die Straße zu setzen. Aber mit ihm würde sie schon fertig werden. Also stieg sie kurzerhand in das Gespräch der alten Damen ein.
    Bald darauf hatte der Eindringling im Hausflur die Mieter zusammengeführt wie Überlebende eines Sturms. Wenn Anne während der nächsten beiden Tage aus dem Haus ging oder von der Arbeit zurückkam, begegnete sie den Blicken ihrer Nachbarn mit einem Schulterzucken und einem Lächeln, und die alten Damen zuckten ebenfalls mit den Schultern und lächelten zurück.
    Der Bursche unter der Decke zeigte sein Gesicht kein einziges Mal; nur der Geruch seines Urins verbreitete sich im Treppenhaus. Wenn sich die Mieter nun über den Weg liefen, rümpften sie angeekelt die Nase und verzogen sich ängstlich und empört wieder in ihre Wohnungen.
    Schließlich ergriff Mrs. Bondarchuk – die alte Dame, die bei der Polizei angerufen hatte – Annes Arm und zog sie in ihre Küche. «Sie müssen etwas unternehmen!»
    «Ich? Wieso nicht der Hausmeister? Oder die Cops?»
    Mrs. Bondarchuk musterte sie vorwurfsvoll. «Glauben Sie ernstlich, die würden sich darum scheren?»
    «Nein, aber was soll ich denn machen?»
    Mrs. Bondarchuk war eine winzige alte Ukrainerin, knapp 1,50 Meter groß, doch ihr runzliges Gesicht ließ keinen Zweifel an ihrer Hartnäckigkeit. Ihr kurzes Haar war in einem nicht sehr überzeugenden Grellrot gefärbt. Bis vor Kurzem hatte sie Anne stets die kalte Schulter gezeigt, doch ihre neu entwickelte Freundlichkeit hatte ihren Preis. «Reden Sie mit dem», sagte sie mit Nachdruck. «Sie sind jung.» Die Logik ihrer Worte lag für sie auf der Hand. «Sie müssen das übernehmen.»
    «Na schön», sagte Anne. «Okay.»
    Sie ging nach unten und verharrte vor dem Lumpenhaufen ohne die geringste Idee, was für eine Kreatur sich darunter verbergen mochte. «Pardon», sagte sie schließlich.
    Weder erhielt sie eine Antwort noch regte sich etwas unter den Lumpen. Durchdringender Gestank lag über dem Hausflur. Es war bereits der vierte Tag.
    «Tut mir leid, aber hier können Sie nicht bleiben. Sie müssen das Haus verlassen.»
    Keine Antwort. Schlief er? Hatte er Drogen genommen?
    «Ich weiß, draußen ist es kalt», sagte sie. «Aber es gibt doch auch andere Orte, wo Sie unterkommen können. Obdachlosenasyle, meine ich. Da kriegen Sie zu essen und können auch duschen und so. Es gibt immer eine Alternative.»
    Im selben Moment erinnerte sie sich, wie einst jemand etwas ganz Ähnliches zu ihr gesagt hatte, als sie noch sehr jung gewesen war, und sich eine lautlose, trotzige Stimme in

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