In einer heißen Sommernacht
eigentlich von diesen Herden lebten. Sie weinte über die grausame und schreckliche Ironie darin.
Sie weinte um die arme Doralee Gerald, die wahrscheinlich alt werden würde, ohne dass sich etwas an ihrer unglücklichen Situation änderte, und die ihr Leben lang ein Objekt des Mitleids und des Spotts bleiben würde. Ella vergoss sogar Tränen für Mr Whitehead, den Rechtsanwalt, obwohl sie ihn kaum kannte, aber er schien ein anständiger Mensch zu sein, der in einem moralischen Dilemma und in hoffnungslos traurigen Umständen gefangen war.
Schließlich versiegten ihre Tränen, und sie brachte ihr Schluchzen unter Kontrolle. Heute Morgen hatte sie sich noch für ihre Fähigkeit gerühmt, die Tränen zurückzuhalten. Aber in letzter Zeit ließ diese Fähigkeit sie immer öfter im Stich. Ihre Weinkrämpfe wurden häufiger und immer heftiger. Wie an jenem Abend in Sollys Zimmer nach seinem Anfall wegen der Garnspulen, der das Schachspiel der beiden Herren unterbrochen hatte. Oder wie gestern Abend, als Mr Rainwater ihr das Buch geschenkt hatte. Der Weinkrampf heute war bis jetzt der schlimmste emotionale Ausbruch. Sie musste diese Entwicklung stoppen. Und zwar ab sofort.
Sie ging hinein und verriegelte die Fliegengittertür, bevor sie durch das Haus ging, um die anderen Türen zu kontrollieren und das Licht zu löschen. In ihrem Zimmer zog sie sich bis auf den Slip aus und streifte ihren leichten Morgenmantel über. Beschämt über ihre roten, geschwollenen Augen, benetzte sie sie mit kaltem Wasser, bis sie nicht mehr so schlimm aussahen. Anschließend putze sie sich die Zähne und zog die Nadeln aus ihrem Haar, um den schweren Knoten zu lösen.
Sie schlug gerade ihre Bettdecke zurück, als es an der Tür klopfte, so leise, dass Ella zunächst dachte, sie hätte es sich eingebildet. Aber es klopfte erneut, genauso leise, jedoch unmissverständlich.
Ella vergewisserte sich, dass ihr Morgenmantel zugebunden war, bevor sie an die Tür ging und sie einen kleinen Spalt öffnete. » Mr Rainwater.« Sofort alarmiert, machte sie die Tür ganz auf und musterte ihn von oben bis unten, während sie sich fragte, ob seine Beschwerden mehr als nur Seitenstiche waren, ob er mehr als nur erschöpft war. » Geht es Ihnen nicht gut?«
» Ich hörte Sie weinen.«
» Oh.«
» Mein Zimmer ist direkt über der Veranda.«
» Oh. Ja.«
» Mein Fenster stand offen.«
» Das habe ich nicht bedacht. Es tut mir leid, falls ich Sie gestört habe.«
» Sie haben mich nicht gestört. Nicht auf die Art, die Sie meinen.« Er machte eine kurze Pause, bevor er sie fragte, warum sie geweint habe.
» Es war albern.«
Er sagte nichts, sondern stand einfach da und blickte sie geduldig oder hartnäckig an, während er auf eine Erklärung wartete.
Ella machte eine hilflose Geste. » Aus verschiedenen Gründen.«
» Welche denn?«
» Es gibt einfach–«
» Was?«
» So viel Grausamkeit, Leid und Kummer im Leben. Und ich habe mich gefragt, warum das so ist.« Die ultimative Ungerechtigkeit war natürlich seine Lebenserwartung. Bei der Erinnerung daran füllten sich Ellas Augen wieder mit Tränen, die sie ungeduldig mit dem Handrücken abwischte. » Danke für Ihre Anteilnahme, aber es geht mir gut.«
» Sicher?«
Sie sah ihm in die Augen, aber ihr Nicken war wohl nicht überzeugend, denn er rührte sich nicht von der Stelle. Ella genauso wenig. Sie starrten sich an, bis Ella dieselbe Enge in der Brust zu spüren begann wie am Abend zuvor, als sie sein Geschenk in der Hand hielt. Das Blut rauschte durch ihre Adern, ihre Augen brannten von neuen Tränen, und sie musste sich auf die Unterlippe beißen, damit sie aufhörte zu zittern.
Er trat einen Schritt näher. Sie sah, dass seine Lippen ihren Namen formten. Ella. Aber sie konnte ihn nicht hören, weil das Blut in ihren Ohren rauschte.
Langsam hob er beide Hände, legte sie an ihre Wangen und umfasste ihr Gesicht. Dann senkte er den Kopf. Sie spürte seinen warmen Atem in ihrem Gesicht und stieß einen leisen, kläglichen Laut aus. Seine Lippen berührten ihren Mundwinkel.
Ella stockte der Atem.
Dann küsste er ihren anderen Mundwinkel. Sie schloss die Augen und presste dadurch ein paar Tränen hervor, die sich sehr nass und sehr heiß auf ihren Wangen anfühlten.
» Nicht weinen«, flüsterte er.
Die zarte Berührung seiner Lippen löste ein tiefes Verlangen in ihr aus, das sich nicht nach und nach entfaltete oder allmählich aus einem langen Schlaf zum Leben erwachte. Vielmehr brach
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