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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Er hatte ein blaues T-Shirt an und eine blaue Trainingshose mit weißen Seitenstreifen.
    Lester.
    Lester beim Erkunden der Landschaft unter dem Rock des Flittchens.
    Nein! erklärte ihr Verstand, der das alles nicht wahrhaben wollte. Er kann es nicht sein! Lester geht nicht in irgendwelche Kneipen! Er trinkt nicht einmal! Und er würde nie eine andere Frau küssen, weil er mich liebt! Ich weiß, daß er das tut, weil...
    »Weil er es gesagt hat.« Ihre Stimme, dumpf und matt, entsetzte sie. Sie wollte das Foto zusammenknüllen und aus dem Fenster werfen, aber sie brachte es nicht fertig – wenn sie das tat, würde vielleicht jemand es finden, und was würde der dann denken?
    Sie beugte sich wieder über das Foto und studierte es gründlich.
    Das Gesicht des Mannes verdeckte das der Frau weitgehend, aber Sally konnte die Linie ihrer Brauen sehen, den Winkel eines Auges, die linke Wange und die Linie ihre Kinns. Was wichtiger war, sie konnte sehen, wie das dunkle Haar der Frau geschnitten war – in einem Stufenschnitt mit Ponyfransen in der Stirn.
    Judy Libby hatte dunkles Haar. Und Judy Libby trug es in einem Stufenschnitt mit Ponyfransen in der Stirn.
    Du irrst dich. Nein, schlimmer als das – du bist verrückt. Les hat mit Judy Schluß gemacht, als sie aus der Kirche austrat. Und dann ging sie fort. Nach Portland oder Boston oder sonstwohin. Da hat sich jemand einen ganz gemeinen Scherz erlaubt. Du weißt doch, Lester würde niemals...
    Aber wußte sie das? Wußte sie das wirklich?
    Jetzt wallte alle ihre frühere Selbstgefälligkeit auf, um sie zu verspotten, und eine Stimme, die sie nie zuvor gehört hatte, meldete sich plötzlich aus einer ganz tiefen Kammer ihres Herzens zu Wort: Das Vertrauen der Reinen ist das nützliche Werkzeug in der Hand des Lügners.
    Aber es brauchte nicht Judy zu sein; es brauchte nicht Lester zu sein. Schließlich war es unmöglich, festzustellen, wer Leute waren, wenn sie sich küßten. Das konnte man nicht einmal in einem Film feststellen, wenn man erst später dazukam, selbst wenn es sich um zwei berühmte Stars handelte. Man mußte warten, bis sie damit fertig waren und wieder in die Kamera schauten.
    Das war kein Film, versicherte ihr die neue Stimme. Das war das wirkliche Leben. Und wenn nicht sie es waren – was tut dann dieser Umschlag in seinem Wagen?
    Jetzt richtete sich ihr Blick auf die rechte Hand der Frau, die leicht gegen
    (Lesters)
    ihres Freundes Rücken drückte. Sie hatte lange, wohlgeformte, dunkel lackierte Nägel. Judy Libby hatte solche Nägel gehabt. Sally erinnerte sich, daß es sie nicht im mindesten überrascht hatte, als Judy aufhörte, in die Kirche zu kommen. Sie erinnerte sich, daß sie damals gedacht hatte, daß ein Mädchen mit solchen Fingernägeln ganz andere Dinge im Kopf haben mußte als Gott den Herrn.
    Also gut, es ist wahrscheinlich Judy Libby. Aber das heißt noch nicht, daß es sich bei dem Mann um Lester handelte. Das könnte nur eine gemeine Art sein, uns beiden heimzuzahlen, daß Lester sie fallenließ, nachdem er begriffen hatte, daß sie ungefähr so christlich war wie Judas Ischariot. Schließlich gibt es eine Menge Männer mit Bürstenhaarschnitt, und jeder Mann kann ein blaues T-Shirt anziehen und eine blaue Trainingshose mit weißen Seitenstreifen.
    Dann fiel ihr Blick auf etwas anderes, und ihr Herz schien sich plötzlich mit Bleikugeln zu füllen. Der Mann trug eine Armbanduhr – eine Digitaluhr. Sie erkannte sie, obwohl sie nicht völlig scharf war. Sie mußte sie erkennen; schließlich hatte sie Lester diese Uhr im vorigen Monat zum Geburtstag geschenkt.
    Es könnte Zufall sein, beharrte ihr Verstand schwächlich. Es war nur eine Seiko, das war alles, was ich mir leisten konnte. Jeder konnte eine solche Uhr tragen. Aber jetzt lachte die neue Stimme heisern, verzweifelt. Die neue Stimme wollte wissen, wem sie etwas vormachen wollte. Und da war noch etwas. Sie konnte die Hand unter dem Rock des Mädchens nicht sehen (Gott sei Dank für kleine Gnadenerweise), aber sie konnte den Arm sehen, und auf diesem Arm waren zwei große Leberflecke, gleich unter dem Ellbogen. Sie berührten sich beinahe, so daß sie aussahen wie eine Acht.
    Wie oft waren ihre Finger liebevoll über diese Leberflekken geglitten, wenn sie und Lester zusammen auf der Veranda gesessen hatten? Wie oft hatte sie sie liebevoll geküßt, während er ihre Brüste liebkoste (gepanzert mit einem schweren J. C. Penney Büstenhalter, sorgfältig ausgewählt für solche

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