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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ersten Mal tat, nicht regelrecht ertränken würde.
    Auch Sally freute sich auf die Ehe und das Ende der sexuellen Frustration, obwohl Lesters Umarmungen ihr in den letzten Tagen nicht mehr ganz so wichtig vorkamen. Sie hatte überlegt, ob sie ihm von dem Holzsplitter aus dem Heiligen Land erzählen sollte, dem Splitter, in dem ein Wunder steckte, und hatte es schließlich nicht getan. Sie würde es natürlich tun; an Wundern sollten auch andere teilhaben. Zweifellos war es Sünde, andere nicht teilhaben zu lassen. Aber das Gefühl eifersüchtiger Besitzgier, das jedesmal in ihr aufwallte, wenn sie daran dachte, Lester den Splitter zu zeigen und ihm anzubieten, ihn selbst in der Hand zu halten, hatte sie überrascht (und ein wenig bestürzt).
    Nein! hatte eine zornige, kindische Stimme gerufen, als sie das erste Mal daran gedacht hatte. Nein, er gehört mir! Er würde ihm nicht so viel bedeuten, wie er mir bedeutet. Das ist überhaupt nicht möglich!
    Der Tag würde kommen, an dem sie ihn daran teilhaben lassen würde, genau so, wie der Tag kommen würde, an dem sie ihn an ihrem Körper teilhaben lassen würde – aber es war noch nicht an der Zeit, daß das eine oder das andere passierte.
    Dieser heiße Oktobertag gehörte ausschließlich ihr.
    Es standen nur wenige Wagen auf dem Lehrerparkplatz, und unter ihnen war Lesters Mustang der neueste und schönste. Sie hatte ständig Ärger mit ihrem eigenen Wagen – mit dem Getriebe stimmte irgend etwas nicht -, aber das war im Grunde kein Problem. Als sie Les am Morgen angerufen und ihn gefragt hatte, ob sie seinen Wagen wieder haben könnte (sie hatte ihn erst am Mittag des Vortags zurückgegeben, nachdem sie ihn für sechs Tage ausgeborgt hatte), war er sofort bereit gewesen, damit zu ihr zu fahren. Er würde zurück joggen, sagte er, und später würde er mit ein paar Freunden Football spielen. Sie vermutete, daß er darauf bestanden hätte, ihr den Wagen zur Verfügung zu stellen, selbst wenn er ihn selbst gebraucht hätte, und das schien ihr völlig in Ordnung zu sein. Ihr war klar – auf eine vage, undefinierbare Art, die eher auf Intuition als auf tatsächlichen Erfahrungen beruhte -, daß Lester durch brennende Reifen springen würde, wenn sie es von ihm verlangte, und dies war die Grundlage einer Anbetung, die sie mit naiver Selbstgefälligkeit hinnahm. Lester verehrte sie; sie beide verehrten Gott; alles war so, wie es sein sollte. Amen.
    Sie stieg in den Mustang, und als sie sich vorbeugte, um ihre Handtasche auf die Konsole zu legen, fiel ihr Blick auf etwas Weißes, das unter dem Beifahrersitz hervorragte. Es sah aus wie ein Briefumschlag.
    Sie bückte sich, hob es auf und dachte dabei, wie merkwürdig es war, so etwas in dem Mustang zu finden. Lester hielt den Wagen normalerweise so peinlich sauber wie sich selbst. Auf dem Briefumschlag stand nur ein Wort, aber es versetzte Sally Ratcliffe einen unerfreulichen kleinen Schlag. Das Wort war Liebling, geschrieben in einer leichten flüssigen Schrift.
    Einer weiblichen Schrift.
    Sie drehte den Umschlag um. Auf der Rückseite stand nichts, und er war verschlossen.
    »Liebling?« fragte Sally zweifelnd, und plötzlich wurde ihr klar, daß sie bei geschlossenen Fenstern in Lesters Wagen saß und schwitzte. Sie ließ den Motor an, öffnete das Fenster an der Fahrerseite und beugte sich dann über die Konsole, um auch das Fenster an der Beifahrerseite zu öffnen.
    Dabei war ihr, als stiege ihr ein Hauch Parfumduft in die Nase. Doch wenn das der Fall war, dann stammte es nicht von ihr; sie benutzte weder Parfum noch Make-up. Ihre Religion lehrte, daß dergleichen Dinge die Werkzeuge der Dirnen waren. (Außerdem war sie nicht darauf angewiesen.)
    Es war ohnehin kein Parfum. Nur die letzten Blüten der Hekkenkirschen, die am Zaun des Spielplatzes wachsen – das ist alles, was du gerochen hast.
    »Liebling?« sagte sie abermals und betrachtete den Umschlag.
    Der Umschlag sagte nichts; er lag stumm in ihrer Hand.
    Sie trommelte mit den Fingern darauf, dann bog sie ihn vor und zurück. Es steckt ein Blatt Papier darin, dachte sie – wenigstens eins – und noch etwas. Dieses Etwas fühlte sich an wie ein Foto.
    Sie hielt den Umschlag vor die Windschutzscheibe, aber es nützte nichts; die Sonne wanderte jetzt in die andere Richtung. Nach kurzem Zögern stieg sie aus und hielt den Umschlag vor die Sonne. Sie konnte nur ein helleres Rechteck erkennen – der Brief, dachte sie – und ein dunkleres, bei dem es sich

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