In einer kleinen Stad
vermutlich um ein Foto von
(Liebling)
der Person handelte, die Lester den Brief geschickt hatte.
Es sei denn natürlich, der Brief war nicht geschickt worden – jedenfalls nicht mit der Post. Es war keine Briefmarke darauf, keine Adresse. Er war auch nicht geöffnet worden, was bedeutete – was? Daß jemand ihn in Lesters Mustang gelegt hatte, während Sally an ihren Akten arbeitete?
Das konnte sein. Es konnte auch bedeuten, daß jemand ihn gestern abend – oder im Laufe des gestrigen Tages – in den Wagen gelegt und daß Lester ihn nicht gesehen hatte. Schließlich hatte nur eine Ecke herausgeragt; vielleicht war er ein Stückchen unter dem Sitz hervorgerutscht, als sie am Morgen zur Schule gefahren war.
»Hi, Miss Ratcliffe!« rief jemand. Sally fuhr zusammen und verbarg den Umschlag in den Falten ihres Rockes. Ihr Herz klopfte schuldbewußt.
Es war der kleine Billy Marchant, der mit seinem Skateboard unter dem Arm den Spielplatz überquerte. Sally winkte ihm zu und stieg dann schnell wieder in den Wagen. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an. Sie war errötet. Das war albern – nein, verrückt war es -, aber sie benahm sich fast, als hätte Billy sie bei etwas ertappt, was sie eigentlich nicht tun sollte.
Nun, war es nicht so? Hast du etwa nicht versucht, in einen Brief hineinzuschauen, der nicht für dich bestimmt ist?
Da spürte sie die ersten Anzeichen von Eifersucht. Vielleicht gehörte er ihr; eine Menge Leute in Castle Rock wußten, daß sie in den letzten Wochen Lesters Wagen ebenso oft gefahren hatte wie ihren eigenen. Und selbst wenn der Brief nicht ihr gehörte, Lester Pratt gehörte ihr. Hatte sie nicht gerade mit der unerschütterlichen Selbstgefälligkeit, die nur christliche Frauen, die jung und hübsch sind, an den Tag zu legen vermögen, daran gedacht, daß er für sie durch brennende Reifen springen würde?
Liebling.
Aber niemand hatte den Brief für sie in den Wagen gelegt, soviel war sicher. Sie hatte keine Freundinnen, die sie Sweetheart oder Darling oder Liebling nannten. Er war für Lester bestimmt. Und...
Plötzlich war ihr die Lösung des Rätsels klar, und sie lehnte sich mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung in dem kobaltblauen Sitz zurück. Lester unterrichtete Sport an der High School von Castle Rock. Er hatte natürlich nur die Jungen, aber ein Haufen Mädchen – junge, leicht zu beeindrukkende Mädchen – sah ihn jeden Tag. Und Les war ein gutaussehender junger Mann.
Irgendein Mädchen von der High School, das für ihn schwärmt, hat einen Brief in seinen Wagen praktiziert. Hat nicht einmal gewagt, ihn auf das Armaturenbrett zu legen, wo er ihn gleich gesehen hätte.
»Er hätte nichts dagegen, wenn ich ihn öffne«, sagte Sally laut, riß einen säuberlichen Streifen von der Kante des Umschlags ab und deponierte ihn im Aschenbecher, in dem sich noch nie ein Zigarettenstummel befunden hatte. »Wir werden heute abend gemeinsam darüber lachen.«
Sie hielt den Umschlag schräg, und ein Kodak-Foto fiel in ihre Hand. Sie sah es, und einen Augenblick lang stoppte ihr Herzschlag. Dann keuchte sie. Grelles Rot überflutete ihre Wangen, und ihre Hand bedeckte ihren Mund, der sich zu einem kleinen, schockierten O der Bestürzung verzerrt hatte.
Sally war nie im Mellow Tiger gewesen und wußte deshalb nicht, daß er den Hintergrund lieferte, aber sie war nicht völlig unwissend. Sie hatte oft genug ferngesehen, um eine Kneipe zu erkennen, wenn sie eine sah. Das Foto zeigte einen Mann und eine Frau an einem Tisch, der in einer Ecke (einer gemütlichen Ecke, wie ihr Verstand beharrlich erklärte) eines großen Raumes stand. Auf dem Tisch standen ein Krug Bier und zwei Gläser. Andere Leute saßen an Tischen hinter ihnen und um sie herum. Im Hintergrund war eine Tanzfläche.
Der Mann und die Frau küßten sich.
Sie trug ein glitzerndes Top, das ihr Zwerchfell unbedeckt ließ, und einen Rock aus etwas, bei dem es sich um weißes Leinen zu handeln schien. Einen sehr kurzen Rock. Eine Hand des Mannes lag vertraulich auf der Haut ihrer Taille. Die andere befand sich wirklich und wahrhaftig unter ihrem Rock und schob ihn sogar noch höher hinauf. Sally konnte sogar den Rand des Slips sehen.
Dieses Flittchen , dachte Sally mit wütendem Entsetzen.
Der Mann wendete dem Fotografen den Rücken zu; Sally konnte nur sein Kinn und ein Ohr sehen. Aber sie konnte sehen, daß er sehr muskulös war und daß er das schwarze Haar in einem rigoros kurzgehaltenen Bürstenhaarschnitt trug.
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