In einer kleinen Stad
Mitschuld nicht entziehen und auch nicht zulassen, daß jemand sie ihr ausredete (Alan hatte klugerweise gar nicht erst versucht, es zu tun), aber sie war nicht sicher, ob sie deshalb anders gehandelt hätte. Den Kern von Netties Wahnsinn zu kontrollieren oder zu ändern, hatte außerhalb von Pollys Macht gestanden; dennoch hatte Nettie drei glückliche, produktive Jahre in Castle Rock verbracht. Vielleicht waren drei solche Jahre besser als die lange, graue Zeit, die sie in der Anstalt hätte verbringen müssen, bevor Alter oder schlichte Langeweile sie ins Grab brachten. Und wenn Polly durch ihr Tun auch Wilmas Todesurteil unterschrieben hatte, hatte dann nicht Wilma selbst die einzelnen Punkte dieses Dokuments niedergelegt? Schließlich war es Wilma gewesen und nicht Polly, die Nettie Cobbs munteren, harmlosen kleinen Hund mit einem Korkenzieher umgebracht hatte.
Da war ein anderer Teil in ihr, ein simplerer Teil, der einfach über das Hinscheiden einer Freundin trauerte und darüber verblüfft war, daß Nettie so etwas hatte tun können, obwohl Polly den ganz eindeutigen Eindruck gehabt hatte, daß sich ihr Zustand besserte.
Sie hatte einen Großteil des Vormittags damit verbracht, Vorbereitungen für die Beerdigung zu treffen und Netties Verwandte anzurufen (die alle erklärt hatten, sie würden nicht zur Beisetzung erscheinen, was genau das war, was Polly erwartet hatte), und diese Arbeit, die Verwaltung des Todes, hatte ihr geholfen, sich ihres eigenen Kummers bewußt zu werden – was zweifellos der Sinn aller Begräbnisrituale ist.
Trotzdem gab es einige Dinge, die ihr noch nicht aus dem Kopf gingen.
Die Lasagne zum Beispiel – sie stand immer noch im Kühlschrank, mit Folie abgedeckt, damit sie nicht austrocknen konnte. Sie nahm an, daß sie und Alan sie am Abend essen würden – das heißt, wenn er kommen konnte. Sie würde sie nicht allein essen. Das brachte sie nicht fertig.
Sie erinnerte sich immer wieder daran, wie rasch Nettie gesehen hatte, daß sie Schmerzen hatte, wie exakt sie diese Schmerzen beurteilt und wie sie ihr die Heizhandschuhe gebracht hatte, felsenfest davon überzeugt, daß sie diesmal helfen würden. Und natürlich an die letzten Worte, die Nettie zu ihr gesagt hatte: »Ich liebe Sie, Polly.«
»Erde an Polly, Erde an Polly, kommen, Pol, hörst du mich?« rief Rosalie. Sie hatten sich an diesem Vormittag gemeinsam an Nettie erinnert und im Hinterzimmer zusammen geweint und einander zwischen den Stoffballen in den Armen gehalten. Jetzt schien Rosalie gleichfalls glücklich zu sein – vielleicht nur, weil sie gehört hatte, daß Polly sang.
Oder vielleicht auch, weil sie für keine von uns beiden ganz real war, dachte Polly. Es lag ein Schatten über ihr – keiner, der vollständig schwarz gewesen war, nur gerade so dicht, daß es schwerfiel, sie zu sehen. Und das ist es, was unseren Kummer so zerbrechlich macht.
»Ich höre dich«, sagte Polly. »Ich fühle mich besser, ich kann nichts dagegen tun, und ich bin dankbar dafür. Wären deine Fragen damit ungefähr beantwortet?«
»Ungefähr«, sagte Rosalie. »Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht hat, als ich zurückkam – zu hören, daß du singst, oder zu sehen, daß du wieder an einer Nähmaschine sitzt. Heb deine Hände hoch.«
Polly tat es. Niemand würde sie je für die Hände einer Schönheitskönigin halten, mit ihren gekrümmten Fingern und den Heberden-Knoten, die die Knöchel auf groteske Weise vergrößerten. Aber Rosalie konnte sehen, daß die Schwellung beträchtlich zurückgegangen war seit letztem Freitag, als die heftigen Schmerzen Polly gezwungen hatten, früher zu gehen.
»Wow!« sagte Rosalie. »Tun sie überhaupt noch weh?«
»Natürlich – aber weniger als den ganzen letzten Monat. Sieh mal.«
Sie krümmte die Finger langsam zu einer lockeren Faust. Dann öffnete sie sie wieder, ebenso langsam und vorsichtig. »Es ist mindestens einen Monat her, seit ich das zuletzt tun konnte.« Die Wahrheit war, wie Polly wußte, etwas extremer; sie war seit April oder Mai nicht mehr imstande gewesen, eine Faust zu machen, ohne dabei heftige Schmerzen haben.
»Wow!«
»Und deshalb fühle ich mich besser«, sagte Polly. »Und wenn Nettie hier wäre und das erleben könnte, wäre es einfach ideal.«
Die Ladentür wurde geöffnet.
»Siehst du nach, wer das ist?« fragte Polly. »Ich möchte diesen Ärmel fertignähen.«
»Mach ich.« Rosalie setzte sich in Bewegung, dann blieb sie stehen und blickte
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