In einer kleinen Stad
sie wieder und brach in Tränen aus. Die Tränen waren heiß; sie brannten wie Säure. »Miststück! Und du! Du! Du verlogener Dreckskerl!«
Sie rammte den Schlüssel ins Zündschloß. Der Mustang erwachte mit einem Dröhnen, das sich so wütend anhörte, wie sie sich fühlte. Sie schaltete das Automatikgetriebe auf Drive und verließ den Lehrerparkplatz in einer Wolke aus blauem Rauch und mit dem kläglichen Quietschen versengten Gummis.
Billy Marchant, der auf dem Spielplatz mit seinem Skateboard Sprünge trainierte, schaute überrascht auf.
4
Eine Viertelstunde später war sie in ihrem Schlafzimmer, wühlte in ihrer Wäsche, suchte nach dem Splitter und fand ihn nicht. Ihre Wut auf Judy und ihren lügenden Mistkerl von einem Freund war verdrängt von einer übermächtigen Angst – was war, wenn er verschwunden war? Was war, wenn ihn doch jemand gestohlen hatte?
Sally hatte den zerrissenen Umschlag mitgebracht, und jetzt wurde ihr bewußt, daß sie ihn immer noch mit der linken Hand umkrampfte. Er hinderte sie beim Suchen. Sie warf ihn beiseite, riß ihre vernünftige Baumwoll-Unterwäsche mit beiden Händen aus der Schublade und verstreute sie überall im Zimmer. Gerade, als sie das Gefühl hatte, ihre Kombination aus Panik, Wut und Verzweiflung laut herausschreien zu müssen, sah sie den Splitter. Sie hatte die Schublade so ungestüm aufgerissen, daß er in die hintere linke Ecke gerutscht war.
Sie ergriff ihn und spürte sofort, wie Ruhe und Gelassenheit durch sie hindurchflutete. Sie packte den Umschlag mit der anderen Hand, und dann hielt sie beide Hände vor sich, gut und böse, geheiligt und profan, Alpha und Omega. Dann legte sie den zerrissenen Umschlag in die Schublade und warf ihre Wäsche in ungeordneten Haufen darüber.
Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden und neigte den Kopf über den Splitter. Sie schloß die Augen. Wartete darauf, daß der Boden unter ihr sanft zu schwanken begann, wartete auf den Frieden, der sie überkam, wenn sie die Stimmen der Tiere hörte, der armen, dummen Tiere, errettet in einer Zeit der Bosheit durch die Gnade Gottes.
Statt dessen hörte sie die Stimme des Mannes, der ihr den Splitter verkauft hatte. Sie sollten wirklich etwas unternehmen, wissen Sie, sagte Mr. Gaunt aus der Tiefe der Reliquie heraus. Sie sollten wirklich etwas unternehmen in dieser – widerwärtigen Sache.
»Ja«, sagte Sally Ratcliffe. »Ja, ich weiß.«
Sie saß den ganzen Nachmittag da in ihrem heißen, jungfräulichen Schlafzimmer, dachte und träumte in dem dunklen Kreis, den der Splitter um sie herum verbreitete, in einer Haltung, die dem Wiegen einer Kobra glich.
5
»Lookit my king, all dressed in green... iko-iko one day... he’s not a man, he’s lovin machine...«
Während Sally Ratcliffe in ihrer neuen Dunkelheit meditierte, saß Polly Chalmers in einem Balken aus hellem Sonnenlicht an einem Fenster, das sie einen Spaltbreit geöffnet hatte, um ein wenig von dem ungewöhnlich warmen Oktobernachmittag einzulassen. Sie ließ ihre Singer Dress-O-Matic schnurren und sang »Iko Iko« mit ihrer klaren, angenehmen Altstimme.
Rosalie Drake trat zu ihr und sagte: »Ich kenne jemanden, der sich heute besser fühlt. Wesentlich besser, dem Klang nach zu urteilen.«
Polly schaute auf und bedachte Rosalie mit einem Lächeln, das schwer zu deuten war. »Das stimmt – und auch wieder nicht«, sagte sie.
»Was du damit meinst, ist, daß du dich besser fühlst und nichts dagegen tun kannst.«
Polly dachte ein paar Augenblicke lang darüber nach, dann nickte sie. Es stimmte nicht ganz, aber es genügte. Die beiden Frauen, die gestern zusammen gestorben waren, waren heute wieder beieinander, in Samuels Bestattungsinstitut. Morgen früh würden sie von verschiedenen Kirchen aus begraben werden, aber morgen nachmittag würden Nettie und Wilma wieder Nachbarn sein – diesmal auf dem Homeland-Friedhof. Polly hielt sich für mitschuldig an ihrem Tod – schließlich wäre Nettie nicht nach Castle Rock zurückgekommen, wenn sie nicht gewesen wäre. Sie hatte die erforderlichen Briefe geschrieben, an den erforderlichen Hearings teilgenommen, hatte für Nettie Cobb sogar ein Haus gefunden, in dem sie leben konnte. Und warum? Das Verdrehte daran war, daß sich Polly beim besten Willen nicht daran erinnern konnte, wenn man davon absah, daß es ihr damals als ein Akt der Nächstenliebe und des gesunden Menschenverstandes zugleich erschienen war.
Sie würde sich dieser
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