In einer kleinen Stad
wäre ich nicht gekommen«, sagte Lenore Potter. Sie wirkte nervös, verzweifelt. Ihr silbernes Haar, normalerweise perfekt frisiert, war zu einem nachlässigen Knoten zusammengerafft. Unter ihrem teuren grauen Köperrock schaute ein Zentimeter Unterrock hervor, und unter den Augen hatte sie dunkle Ringe. Die Augen selbst waren rastlos und wanderten mit wütendem Argwohn von einer Stelle zur anderen.
»Es war die Howdy Doody-Puppe, die Sie sich ansehen wollten, nicht wahr? Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie mir erzählt, daß Sie eine beachtliche Kollektion von Kinder...«
»Ich glaube nicht, daß ich heute in der rechten Verfassung bin, mir so friedliche Dinge anzusehen«, sagte Lenore. Sie war die Frau des reichsten Anwalts von Castle Rock, und sie sprach in einem knappen, anwaltsmäßigen Tonfall. »Ich bin in einer überaus schlechen Verfassung. Ich habe einen Magenta-Tag. Nicht nur rot, sondern magenta.«
Mr. Gaunt ging um die größte der Vitrinen herum und kam auf sie zu, und sein Gesicht war plötzlich von Besorgnis und Anteilnahme erfüllt. »Meine liebe Dame, was ist passiert! Sie sehen furchtbar aus!«
»Natürlich sehe ich furchtbar aus!« fuhr sie ihn an. »Der normale Fluß meiner psychischen Aura ist gestört – schwer gestört. Meine gesamte calava hat ihr Blau, die Farbe der Ruhe und Ausgeglichenheit, verloren und sich statt dessen grell magentarot verfärbt! Und an alledem ist dieses Weibsstück von der anderen Straßenseite schuld! Dieses widerliche Weibsstück!«
Mr. Gaunt machte beruhigende Gesten, ohne Lenores Körper zu berühren. »Wen meinen Sie mit dem Weibsstück, Mrs. Potter?« fragte er, obwohl er es ganz genau wußte.
»Die Bonsaint natürlich! Die Bonsaint! Diese widerliche, verlogene Bonsaint! Ein paarmal dunkelrosa, ja, und einmal, nachdem ich in Oxford auf der Straße beinahe von einem Betrunkenen angefahren worden wäre, hat sie sich vielleicht für ein paar Mintuen rot gefärbt, aber magenta war sie noch nie! So kann ich einfach nicht leben !«
»Natürlich nicht«, sagte Mr. Gauntbesänftigend. »Das kann wirklich niemand von Ihnen erwarten, meine Teuerste.«
Schließlich fingen seine Augen die ihren ein. Es war nicht einfach, da Mrs. Potter ihre Blicke so verzweifelt in alle Richtungen schweifen ließ, aber dann schaffte er es doch. Und als es ihm gelungen war, beruhigte sich Lenore fast auf der Stelle. Mr. Gaunt in die Augen zu schauen, stellte sie fest, war fast so, als schaute sie in ihre eigene Aura, wenn sie ihre sämtlichen Übungen absolviert, die richtige Nahrung (in erster Linie Bohnensprossen) zu sich genommen und sich mit mindestens einer Stunde Meditieren nach dem Aufstehen am Morgen und vor dem Zubettgehen am Abend um die Oberfläche ihrer calava gekümmert hatte. Die Farbe seiner Augen war das blasse, friedvolle Blau des Himmels über der Wüste.
»Kommen Sie«, sagte er. »Hier herüber.« Er geleitete sie zu der Gruppe von drei hochlehnigen Polsterstühlen, auf denen im Lauf der letzten Woche so viele Einwohner von Castle Rock gesessen hatten. Und als sie saß, forderte Mr. Gaunt sie auf: »Erzählen Sie mir alles.«
»Sie hat mich schon immer gehaßt«, sagte Lenore. »Sie hat immer geglaubt, ihr Mann wäre in der Firma nicht so schnell hochgekommen, wie sie es wollte, weil mein Mann das verhindert hätte! Und daß ich ihn dazu veranlaßt hätte. Sie ist eine Frau mit einem kleinen Geist, einem großen Busen und einer schmutziggrauen Aura. Sie kennen den Typ.«
»So ist es«, sagte Mr. Gaunt.
»Aber bis heute morgen habe ich nicht gewußt, wie sehr sie mich haßt!« Trotz Mr. Gaunts beruhigendem Einfluß regte Lenore Potter sich wieder auf. »Ich bin aufgestanden, und meine Blumenbeete waren total ruiniert! Ruiniert! Alles, was gestern wunderschön war, stirbt heute ab. Alles, was die Aura besänftigte und die calava nährte, wurde gemordet! Von diesem Weibsstück! Von diesem verdammten Bonsaint-Weibs-stück! «
Lenores Hände ballten sich zu Fäusten, entzogen die elegant manikürten Nägel dem Blick. Die Fäuste trommelten auf die geschnitzten Armlehnen der Stühle.
»Chrysanthemen, Silberkerzen, Astern, Ringelblumen – dieses Weibsstück ist in der Nacht herübergekommen und hat sie alle ausgerissen! Sie überall hingeworfen! Wissen Sie, wo ich meinen Zierkohl heute morgen gefunden habe, Mr. Gaunt?«
»Nein. Wo denn?« fragte er sanft. In Wirklichkeit konnte er sich recht gut vorstellen, wo sie ihn gefunden hatte, und er wußte genau, wer
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