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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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damit über das Bettgitter.
    Sean versuchte sich aufzusetzen, aber er konnte es nicht. Er sank wieder auf sein Kissen zurück mit einem kleinen Seufzer, der Alan in der Seele wehtat. Seine Gedanken kehrten zu seinem eigenen Sohn zurück, zu Todd. Als er die Hand unter Sean Rusks Genick schob, um ihm beim Aufrichten zu helfen, durchlebte er einen grauenhaften Moment totaler Erinnerung. Er sah Todd an jenem Tag neben dem Scout stehen, sah, wie er sein Abschiedswinken erwiderte, und vor dem Auge der Erinnerung schien ein schwindendes Licht Todds Kopf zu umspielen und jede Einzelheit zu illuminieren.
    Seine Hand zitterte. Ein paar Tropfen Wasser fielen auf das Krankenhaus-Nachthemd, das Sean trug.
    »Tut mir leid.«
    »Macht nichts«, erwiderte Sean mit seiner heiseren Flüsterstimme und trank durstig. Er leerte das Glas fast zur Gänze. Dann stieß er auf.
    Alan ließ ihn behutsam wieder zurücksinken. Sean schien jetzt ein wenig munterer zu sein, aber seine Augen waren nach wie vor glanzlos. Alan dachte, daß er noch nie einen kleinen Jungen gesehen hatte, der so entsetzlich einsam wirkte, und vor seinem inneren Auge stand abermals das letzte Bild von Todd.
    Er schob es beiseite. Hier mußte Arbeit getan werden. Es war eine widerwärtige Arbeit, und eine verdammt kitzlige obendrein, aber er war mehr und mehr überzeugt, daß es auch eine ungeheuer wichtige Arbeit war. Ungeachtet der Dinge, die gerade jetzt in Castle Rock passieren mochten, war er in zunehmendem Maße davon überzeugt, daß zumindest einige der Antworten hier steckten, hinter dieser blassen Stirn und diesen traurigen, glanzlosen Augen.
    Er ließ den Blick durchs Zimmer wandern und erzwang ein Lächeln. »Langweiliges Zimmer«, sagte er.
    »Ja«, sagte Sean mit seiner leisen, heiseren Stimme. »Total öde.«
    »Vielleicht würde es mit ein paar Blumen etwas lustiger«, sagte Alan, strich mit der rechten Hand über seinen linken Unterarm und zupfte geschickt den magischen Blumenstrauß aus seinem Versteck unter dem Uhrarmband.
    Er wußte, daß er sein Glück forcierte, aber er hatte sich aus der Eingebung des Augenblicks heraus entschlossen, es trotzdem zu versuchen. Beinahe mußte er es bedauern. Zwei der Seidenpapierblumen zerrissen, als er die Schlinge abstreifte und den Strauß aufspringen ließ. Er hörte, wie die Feder ermüdet knackte. Es war zweifellos das letzte Mal, daß dieses Exemplar des Tricks seine Blüten entfaltete, aber Alan kam tatsächlich damit durch – gerade noch. Und im Gegensatz zu seinem Bruder war Sean trotz seiner seelischen Verfassung und der in seinem Organismus wirkenden Medikamente eindeutig belustigt und entzückt.
    »Toll! Wie haben Sie das gemacht?«
    »Nur ein bißchen Zauberei. – Willst du sie haben?« Er machte Anstalten, den Strauß aus Seidenpapierblumen in den Wasserkrug zu stellen.
    »Nein. Das ist nur Papier. Außerdem sind sie an ein paar Stellen gerissen.« Sean dachte darüber nach, kam offenbar zu dem Schluß, daß sich das undankbar anhörte, und setzte hinzu: »Aber es ist ein hübscher Trick. Können Sie sie auch wieder verschwinden lassen?«
    Das bezweifle ich, mein Junge, dachte Alan. Laut sagte er: »Ich werde es versuchen.«
    Er hielt den Strauß hoch, so daß Sean ihn deutlich sehen konnte, dann krümmte er die rechte Hand leicht und zog sie herunter. Angesichts des betrüblichen Zustandes des Tricks tat er es wesentlich langsamer als gewöhnlich, und das Ergebnis beeindruckte und überraschte ihn selbst. Anstatt ruckartig zu verschwinden, schienen die Blumen in seiner locker geballten Faust zu vergehen wie Rauch. Er spürte, wie die ausgeleierte Feder versuchte, zu bocken und zu klemmen, sich dann aber doch entschloß, ein letztes Mal ihre Dienste zu tun.
    »Das ist wirklich super«, sagte Sean respektvoll, und Alan pflichtete ihm insgeheim bei. Es war eine wundervolle Variante eines Tricks, mit dem er Schulkinder seit Jahren zum Staunen gebracht hatte, aber er bezweifelte, daß sie sich mit einem neuen Exemplar zuwege bringen ließ. Eine frische Feder würde dieses langsame, traumhafte Verschwinden nicht schaffen.
    »Danke«, sagte er und verstaute den Blumenstrauß zum letztenmal unter seinem Uhrarmband. »Wenn du keine Blumen möchtest – wie wäre es dann mit einem Vierteldollar für den Cola-Automaten?«
    Alan beugte sich vor und pflückte einen Vierteldollar von Seans Nase. Der Junge lächelte.
    »Beinahe hätte ich’s vergessen – neuerdings braucht man ja fünfundsiebzig Cents, nicht

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