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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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robustes
Mädchen – Feldhockeyspielerin und eine der freimütigsten Lesben in der LGBTQ -Gruppe. Meine Amme tolerierte machomäßiges
Auftreten meist [710]  nicht – auch kein schwules oder bisexuelles männliches
Auftreten. Ich konnte sie sehr gut leiden. Falls es je Stress gab – eine
Essensschlacht im Speisesaal oder einen amoklaufenden Schüler –, konnte ich
mich darauf verlassen, dass Julias Amme auf mich achtgab. Sie respektierte Gee
widerwillig, doch die beiden waren sich nicht grün, das wusste ich.
    Aber wo war Gee?, fragte ich mich beunruhigt. Normalerweise traf
meine Julia immer als Erste im Theater ein.
    »Ein Typ sucht Sie, Mr. A. – irgendein Freak, der sehr von sich
eingenommen ist«, erzählte mir Julias Amme. »Ich glaube, er schmeißt sich an
Gee ran, oder vielleicht läuft er nur mit ihr rum und quatscht auf sie ein.
Jedenfalls sind sie hierher unterwegs«, schloss meine Amme.
    Doch zuerst sah ich den Fremden nicht; als ich Gee entdeckte, war
sie allein. Ich hatte Mercutios Todesszene mit meinem langbeinigen Mercutio
besprochen, einem sehr begabten Elftklässler, der zu Recht bemerkte, dass Mercutio
seine schlimme Stichwunde vor Romeo mit viel schwarzem Humor herunterspielt:
»Nein, weder so tief wie ein Brunnen noch so breit wie eine Kirchentür; aber es
reicht eben hin. Fragt morgen nach mir, und ihr werdet einen grabesstillen Mann
an mir finden.« Und doch riet ich meinem Mercutio davon ab, auch nur das
kleinste bisschen Komik durchschimmern zu lassen, wenn er die Capulets und die
Montagues verflucht: »Hol der Henker eure beiden Häuser!«
    Da endlich kam Gee.
    »Entschuldigen Sie die Verspätung, Mr. A. – ich wurde kurz
aufgehalten«, sagte sie mit rosigen, geradezu [711]  hochroten Wangen, was auch an
der Kälte draußen liegen mochte. Sie kam ohne Begleitung.
    »Wie ich höre, hat dich irgendein Typ behelligt«, sagte ich ihr.
    » Mich hat er nicht behelligt – er will was
von Ihnen «, sagte mir meine Julia.
    »Sah so aus, als wollte er dich anbaggern«, sagte meine robuste Amme
zu ihr.
    »Bevor ich aufs College komme, baggert mich niemand an«, entgegnete
ihr Gee.
    »Hat der Mann gesagt, was er wollte?«, fragte ich Gee; sie schüttelte
den Kopf.
    »Ist wohl was Privates, Mr. A. – der Typ ist wegen irgendwas
aufgebracht«, sagte Gee.
    Wir alle standen im hellerleuchteten Bühnenbereich; die
Hausbeleuchtung hatte mein Inspizient bereits gedimmt. In unserer Black Box
können wir das Publikum dorthin setzen, wo wir es haben wollen; wir können die
Sitze herumschieben. Manchmal sitzt das Publikum im Kreis um die Bühne herum
und dann wieder auf zwei gegenüberliegenden Seiten der Bühne. Für Romeo und Julia hatte ich die Sitze zu einem flachen
Hufeisen um die Bühne herum aufbauen lassen. Bei gedimmter, aber nicht
ausgeschalteter Hausbeleuchtung konnte ich von meinem Sitz im Publikum aus die
Proben verfolgen und hatte trotzdem genug Licht, um meine Notizen zu lesen oder
mir neue zu machen.
    Mein schwuler Benvolio flüsterte es mir ins Ohr, während wir alle
noch darauf warteten, dass Manfred (mein abwesender Tybalt) von seinem
Ringkampf auf den Campus zurückkehrte. »Mr. A., ich sehe ihn«, flüsterte mein [712]  Benvolio.
»Der Typ, der Sie sucht – er sitzt im Publikum.« Wegen der Notbeleuchtung sah
ich das Gesicht des Mannes nicht; er saß in der Mitte der hufeisenförmigen
Bestuhlung, etwa vier oder fünf Reihen weiter hinten – knapp außerhalb der
Reichweite der Spots, die unsere Bühne beleuchteten.
    »Sollen wir die Security holen, Mr. A.?«, fragte Gee.
    »Nein, nein – ich seh mal nach, was er will«, beruhigte ich sie.
»Falls du den Eindruck hast, dass ich in einem unangenehmen Gespräch stecke,
komm einfach und unterbrich uns – tu einfach so, als müsstest du mich wegen des
Stücks etwas fragen. Dir fällt schon irgendwas ein.«
    »Soll ich Sie begleiten?«, fragte mich meine kühne Amme, die
Feldhockeyspielerin.
    »Nein, nein«, antwortete ich dem furchtlosen, streitlustigen
Mädchen.
    Bei unseren Proben waren wir an dem Punkt angelangt, wo ich die
Schüler ihren Text gern am Stück vortragen lasse: Ich wollte weder
häppchenweise noch außer der Reihe proben. Mein allzeit bereiter Tybalt hat in
der 1. Szene des 1. Aufzugs etwas Angriffslustiges, Aufhetzendes. (Auftritt Tybalt, mit gezogenem Schwert.) Die einzige
Probe, die ich ohne Manfred machen wollte, war die kleine einleitende Nummer,
die der Chor vorträgt, den Prolog des Stücks.
    »Hört zu,

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