In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
geängstigt; daraufhin feixte er nur, sie würde sich unnötig den Kopf zerbrechen.
Heute sehnte er sich geradezu nach einem Zeichen von ihr.
Cam ging nach oben und drehte die Dusche auf. Er ließ den Dampf die Kabine füllen, bis er seine Hand nicht mehr vor Augen sah.
Während Harrison Harding an jenem Nachmittag vor dem Gerichtssaal darauf wartete, als Zeuge aufgerufen zu werden, fertigte er für Graham eine grobe psychologische Skizze der Geschworenen an. Die ließ er Graham zukommen, zehn Minuten bevor man ihn bat, als psychiatrischer Sachverständiger der Verteidigung in den Zeugenstand zu treten. Während der Vereidigung des Arztes starrte Graham auf den Zettel. Geschworener Nr. 2 wirkt gesetzt, ein Problem. Geschworene Nr. 3, nervöses Zucken im linken Auge, konservativ, argwöhnisch. Geschworene Nr. 5, gebatikte Bluse, möglicherweise die Beste. Geschworener Nr. 7, ungebärdiger Schopf, fair und sehr motiviert. Geschworene Nr. 11, rotgefärbte Haare, extrem neurotisch, unberechenbar.
Graham geleitete Dr. Harding durch das pedantische Ritual, seine berufliche Laufbahn zu schildern, das einzig dazu diente, bei den Geschworenen den Eindruck zu festigen, dieser Mensch sei wahrhaftig ein Experte in seinem Fachbereich. »Wie viele Jahre praktizieren Sie schon, Dr. Harding?« war Grahams erste richtige Frage, seit Jamie den Platz geräumt hatte.
»Seit siebzehn Jahren.«
Graham ließ die Geschworenen diese Information verdauen. Sie waren heute ein wenig unkonzentriert. Ab und zu blickte der eine oder andere von ihnen auf den Angeklagten, entweder vorwurfsvoll oder um zu sehen, wie er sich nach dem gestrigen Kreuzverhör hielt.
»Haben Sie schon einmal vor Gericht ausgesagt?«
»Oft«, bestätigte Harding. Er faltete die Hände säuberlich im Schoß.
»Können Sie Ihre Sitzungen mit Mr. MacDonald beschreiben?«
Harding sah seinen Probanden an, als müßte er in dessen Gehirnwindungen schauen, damit ihm wieder einfiel, was zwischen ihnen ausgetauscht worden war. »Jamie ist ein reservierter Mensch, der nicht leicht Zugang gewährt. Die meiste Zeit während unserer Sitzungen sprach er von seiner Frau Maggie. An der Detailgenauigkeit und der Hingabe, mit der er Bericht erstattete, läßt sich klar erkennen, daß seine Beziehung zu ihr ungeheuer eng war, daß auf dieser Beziehung zum Teil seine Ich-Vorstellung basierte. Ich glaube, daß Jamie in zweifacher Hinsicht psychische Probleme hatte. Einerseits baute er eine Verschmelzungsphantasie auf, wobei ein Mensch mit besonders fragiler Persönlichkeit psychisch mit einem Partner eins wird. In Jamies Fall war diese Phantasie auf Maggie gerichtet. Maggie leiden zu sehen, verursachte den gleichen Schmerz in Jamie kein Mitleid, wie Sie oder ich es empfinden würden –, sondern wahre physische Empathie. Ein Ende von Maggies Leiden war dementsprechend gleichzusetzen mit dem Ende seiner Qualen. Zusätzlich litt er an einer temporären psychotischen Reaktion, die durch lange anhaltenden Streß ausgelöst wurde.«
»Können Sie das etwas näher ausführen?«
»Dabei handelt es sich um eine kurze Zeitspanne, während derer sich eine Person eindeutig ungewohnt und abweichend von ihrem gewöhnlichen Lebensstil verhält. Oft sind damit Gedächtnisverlust, Amnesieperioden und Realitätsstörungen verbunden. In anderen Worten, der Betroffene nimmt möglicherweise nicht wahr, was um ihn herum geschieht, auch wenn er die Vorgänge selbst ausgelöst hat.«
»Glauben Sie in Ihrer Eigenschaft als Psychiater, daß Jamie heute zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann, Doktor?«
»Ja.«
»Und zum Zeitpunkt des Todes seiner Frau?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Harding schlug die Beine übereinander. »Jamie stand unter außerordentlich starkem Druck, der seine Fähigkeit, klar zu denken, so einschränkte, daß er Äußerungen von Maggie ihm gegenüber nicht mehr objektiv zu gewichten vermochte. Menschen, die mit einem unheilbar kranken Lebenspartner verbunden sind, leiden oft unter extremen Depressionen und einem eingeschränkten Urteilsvermögen. Um es laienhaft auszudrücken, Jamie drehte durch. Meiner Meinung nach war er sich in der Nacht, als seine Frau starb, der Tragweite seiner Handlungen nicht bewußt.«
Graham dankte Dr. Harding und überließ Audra Campbell seinen Zeugen. Sie stand auf, legte den Finger an die Lippen und betrachtete ihn dann ein wenig genauer. Schließlich erstrahlte ein Lächeln auf ihrem Gesicht. »Dr. Harding!« rief sie, als
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