In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
sitzen.«
Allie mußte lächeln. »Mieteinnahmen sind mir vollkommen egal. Ich will einfach vor mich hinbrüten.« Sie sah zu ihm auf. »Aber«, gestand sie, »es war nett von dir, daß du es versucht hast.«
»Ich habe bei einer Meisterin gelernt«, antwortete Cam ruhig, und Allie mußte an die unzähligen Male denken, wenn er von der Arbeit heimgekommen war und an nichts anderes denken konnte als an den einen, der ihm entwischt war, oder an den sexuellen Mißbrauch, der sich in einer braven Wheelocker Familie eingenistet hatte, von der man das nie erwartet hätte. Sie saß dann neben ihm und schnatterte wie eine Elster vor sich hin, über Blumenausstellungen oder Sonderangebote oder irgendwelchen Klatsch, den sie in der Warteschlange an der Supermarktkasse aufgeschnappt hatte – Dinge, die Cam nicht im entferntesten interessierten, die ihn aber von der dunkleren Seite in seinem Dasein ablenkten – und wenn nicht aus Interesse, dann doch aus Verwirrung.
»Bei Angus' Haus will ich darauf hinaus«, sagte Cam, »daß der Mietvertrag verlängert wird. Am besten monatsweise. Ich habe mir gedacht, vielleicht möchte Jamie nicht gleich nach Hause, sondern lieber noch in Wheelock bleiben, wenn das heute vorbei ist. Er weiß bestimmt nicht, daß wir das Haus für Angus gemietet haben.« Cam drehte die Krempe seiner Uniformmütze in der Hand. »Und er hat eine Verschnaufpause verdient.«
Allie blieb der Mund offen stehen. »Das fände ich toll«, meinte sie, als sie sich erholt hatte.
Sie blickte ihn an und sah nicht die wohlgeformten Züge, die sie früher im Schlaf hätte beschreiben können, sondern viel Subtileres: die Güte in den Augenwinkeln, die Reue rund um seinen Mund, die Hoffnung, die er mit der urwüchsigen Kraft seiner Hände ausdrückte. Verglichen mit seinem ausgeprägten Kinn, dem vollen Haar und den anderen physischen Vorzügen, die sie immer bewundert hatte, wirkten diese Eigenschaften weitaus attraktiver.
Sie lehnte sich leicht in seine Richtung. Cam starrte ihr in die Augen und versuchte, die Signale richtig zu deuten. Küß mich, dachte sie. Mach es wenigstens einmal richtig …
Er beugte sich vor.
Ein Gerichtsdiener trat auf den Gang und bellte die Schaulustigen an, die vor Stunden aus dem Gerichtssaal geströmt waren: »Fünf Minuten!« Damit riß er Allie in die Gegenwart zurück. »Urteilsverkündung in fünf Minuten!«
Als sich Jamie neben Graham in die Bank quetschte, sah er kurz zum Tisch der Anklage hinüber. Audra Campbell ordnete bereits ihre Notizen und Akten. Der Gerichtssaal quoll über. Die beiden bewaffneten Wachbeamten, die Jamie gegebenenfalls fortbringen würden, standen wie Torposten links und rechts der Tür. Es waren noch mehr Reporter anwesend als während der Plädoyers. Jamie kannte nur die wenigsten der Menschen, die zur Urteilsverkündung gekommen waren. Er mußte kurz an das alte England denken, wo die Hinrichtung von Verbrechern als öffentliches Spektakel galt.
»Erheben Sie sich.« Während sich der Richter zu seiner Bank begab, rappelte Jamie sich hoch; doch er konnte sich nur aufrecht halten, indem er sich auf der Tischplatte abstützte und leicht gegen Graham lehnte.
Die Jury wurde hereingerufen. Drei Geschworene sahen Jamie kurz an und blickten gleich wieder weg. Graham sagte sich, daß das nichts zu bedeuten habe.
Es kam Jamie so vor, als sei er nur vorübergehend in seinen Stuhl zurückgesunken, als Richter Roarke ihn anschaute. »Würde sich der Angeklagte bitte erheben?«
Er spürte Grahams Hand unter seinem Arm, die ihn hochzog. Wieso tun sie das? dachte er. Damit ich ein besseres Schaustück abgebe? Damit sie sehen können, wie meine Knie zittern? Damit sie dabei sind, wie ich umkippe, wenn ich das Urteil höre?
Richter Roarke wandte sich an den Sprecher der Jury, den pensionierten Soldaten, den Graham von Anfang an nicht in der Jury hatte haben wollen. »Haben Sie ein Urteil gefällt?« fragte er.
Der Sprecher nickte. Er reichte dem Gerichtsdiener den Wahlzettel, den sie vorhin ausgehändigt bekommen hatten, und der Gerichtsdiener reichte ihn weiter an Richter Roarke. Der Richter warf einen kurzen Blick darauf, reichte ihn dem Gerichtsdiener zurück und nickte. »In der Sache ›Staat von Massachusetts gegen James MacDonald‹: Wie befinden Sie über die Anklage vorsätzlichen Mordes?«
»Nicht schuldig.«
Jamie spürte, wie etwas in seiner Brust aufplatzte, etwas Spritziges, Sprudelndes, das als Schweiß durch seine Haut brach.
»Wie befinden
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