In eisige Höhen
zwei Stunden früher ohne weiteres achtzehn oder zwanzig Bergsteiger das Leben kosten können – unter anderem auch mich.
Zweifellos spielte neben dem Wetter auch der Faktor Zeit eine Rolle in der heraufziehenden Katastrophe, und nicht auf die Uhr zu schauen, kann wohl kaum als ein Akt Gottes durchgehen. Verzögerungen an den Fixseilen waren vorhersehbar und daher auch vermeidbar. Vorher festgelegte Umkehrzeiten wurden mit einer Sorglosigkeit ignoriert, die zu denken geben muß.
Die Entscheidung, die Umkehrzeiten zu verlängern, mag bis zu einem gewissen Grad von der Rivalität zwischen Fischer und Hall beeinflußt worden sein. Fischer hatte vor 1996 noch nie eine kommerzielle Bergtour auf dem Everest geleitet. Aus unternehmerischer Sicht muß also ein ungeheurer Erfolgsdruck auf ihm gelastet haben. Er war extrem motiviert, seine Kunden auf den Gipfel zu bringen, vor allem VIP-Kunden wie Sandy Hill Pittman.
Desgleichen wäre es auch für Halls Unternehmen schlechte Reklame gewesen, wenn er, der bereits 1995 niemanden auf den Gipfel gebracht hatte, auch diesmal sein Soll nicht erreichte vor allem falls Scott Fischer erfolgreich wäre. Scott war eine charismatische Persönlichkeit, und dieses Charisma wurde von Jane Bromet offensiv vermarktet. Fischer ließ nichts unversucht, um Hall die Butter vom Brot zu nehmen, und niemand wußte dies besser als Hall selbst. Unter diesen Umständen war die Aussicht, seine Kundschaft umkehren zu lassen, während die Kunden seines Rivalen zum Gipfel vorstießen, vielleicht unerfreulich genug, um Halls Urteilsvermögen zu trüben.
Darüber hinaus kann jedoch nicht oft genug betont werden, daß Hall, Fischer und auch wir anderen gezwungen waren, äußerst kritische Entscheidungen in einem Zustand zu treffen, in dem wir alle stark vom Sauerstoffmangel beeinträchtigt waren. Wer die Ursachen der Katastrophe ergründen will, darf nicht vergessen, daß in Höhen von 8800 Metern klares Denken praktisch unmöglich ist.
Hinterher ist man immer klüger. Unter dem Schock der vielen Opfer waren Kritiker schnell mit Vorschlägen zur Hand, wie sich eine Wiederholung der Katastrophenfälle dieser Saison ausschließen ließe. So wurde zum Beispiel verlangt, auf dem Everest ein Normverhältnis von eins zu eins zwischen Bergführer und Kunde festzulegen – was hieße, daß jeder Kunde mit seinem oder ihrem persönlichen Bergführer klettert und die ganze Zeit über an diesen Führer angeseilt bleibt.
Der vielleicht einfachste Weg, das Risiko eines zukünftigen Massakers zu mindern, wäre, Flaschensauerstoff zu verbieten und seinen Gebrauch auf den medizinischen Notfall zu beschränken. Ein paar leichtsinnige Seelen werden dann wohl weiterhin bei dem Versuch sterben, den Gipfel ohne Sauerstoff zu erklimmen. Der Großteil der Kletteramateure wäre jedoch durch die Grenzen der eigenen physischen Belastbarkeit dazu gezwungen, umzukehren – und dies lange vor Erreichen der großen Höhenlagen, in denen es besonders brenzlig wird. Darüber hinaus hätte ein Flaschenluftverbot den wünschenswerten Nebeneffekt, den Abfall und das Gedränge auf dem Berg zu reduzieren. Sobald bekannt wird, daß der Gebrauch von zusätzlichem Sauerstoff nicht in Frage kommt, werden wesentlich weniger Menschen versuchen, sich mit dem Everest zu messen.
Everest-Führungen unterliegen jedoch kaum irgendwelchen Vorschriften. Sie werden von Dritte-Welt-Bürokratien verwaltet, die völlig außerstande sind, die Qualifikationen eines Bergführers oder eines Kunden zu beurteilen. Darüber hinaus sind Nepal und China, die beiden Länder, die den Zugang zu dem Berg kontrollieren, bettelarm. Ihre Regierungen sind auf harte Devisen angewiesen, und es ist ihr rechtmäßiges Interesse, so viele kostspielige Besteigungsgenehmigungen auszustellen, wie die Nachfrage es zuläßt. Es ist daher unwahrscheinlich, daß sie Verordnungen erlassen, die ihre Einkünfte beträchtlich schmälern.
Ich halte es für durchaus der Mühe wert, kritisch zu untersuchen, was denn nun auf dem Everest alles schiefgegangen war; so mancher Todesfall könnte dadurch wahrscheinlich verhindert werden. Aber zu glauben, daß eine bis ins kleinste Detail gehende Fehleranalyse der tragischen Ereignisse von 1996 die Zahl der Opfer in Zukunft nennenswert verringern würde, ist reines Wunschdenken. Der Zwang, all die vielen Fehlentscheidungen fein säuberlich zu katalogisieren, um »aus Fehlern zu lernen«, entspringt eigentlich mehr dem Bedürfnis, zu verdrängen und
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