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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Harris' Tod. Und während Yasuko Namba sterbend auf dem Südsattel lag, kauerte ich ganze einhundert Meter weiter in einem Zelt, ohne ihren Überlebenskampf auch nur zu bemerken, froh darüber, die eigene Haut gerettet zu haben. Der schwarze Fleck, den dies auf meiner Psyche hinterließ, ist nicht gerade etwas, von dem man sich nach ein paar Monaten der Trauer und der Selbstvorwürfe wieder reinwäscht.
    Irgendwann sprach ich dann mit Klev Schoening, der in meiner Nähe wohnt, über meine anhaltende Unruhe. Klev sagte, daß auch er sich angesichts der vielen Opfer schrecklich fühle, daß er aber im Unterschied zu mir nicht am »Schuldkomplex des Überlebenden« leide. Wie er weiter ausführte: »In jener Nacht auf dem Südsattel habe ich alles gegeben, was in mir steckt, um mich und die Leute, die damals bei mir waren, zu retten. Als wir dann bei den Zelten angekommen sind, hatte ich mich völlig verausgabt. Die Hornhaut von einem Auge war durch die Kälte total hinüber, und ich war praktisch blind. Ich habe an Unterkühlung gelitten, war halb im Delirium und habe nur noch gezittert und gebibbert. Es war eine schlimme Sache, Yasuko zu verlieren, aber ich habe mit mir selbst Frieden geschlossen, weil ich tief in meinem Herzen weiß, daß ich nichts für sie tun konnte. Du solltest nicht so streng mit dir sein. Das Unwetter war wirklich verheerend. Was hättest du in dem Zustand, in dem du damals warst, denn schon für sie tun können?«
    Vielleicht nichts, meinte auch ich. Aber im Gegensatz zu Schoening werde ich mir dessen nie sicher sein. Und der beneidenswerte Friede, von dem er spricht, will sich bei mir nicht einstellen.
    Ein Großteil der Bergsteiger, die heutzutage in Scharen zum Everest strömen, sind nur in begrenztem Maße qualifiziert; vor allem deshalb sind viele Leute der Meinung, daß eine Tragödie dieser Größenordnung längst überfällig war. Aber niemand konnte sich vorstellen, daß dabei eine von Rob Hall geleitete Expedition im Mittelpunkt stehen würde. Halls Unternehmen war auf dem Berg weit und breit das durchorganisierteste und sicherste. In seiner fast zwanghaft methodischen Art hatte er am Berg systematisch Vorgehensweisen ausgearbeitet, die dazu gedacht waren, eine solche Katastrophe von vornherein auszuschließen. Was war also passiert? Wie läßt sich dies erklären, nicht nur den in Liebe trauernden Hinterbliebenen, sondern auch einer argwöhnischen, extrem kritisch urteilenden Öffentlichkeit?
    Menschliche Hybris spielte aller Wahrscheinlichkeit nach eine Rolle. Hall hatte eine solche Sicherheit darin entwickelt, Bergsteiger sämtlicher Kategorien den Everest hoch- und wieder hinunterzuführen, daß er vielleicht ein wenig überheblich geworden war. Bei mehr als nur einer Gelegenheit hatte er damit geprahlt, daß er so gut wie jeden körperlich einigermaßen fitten Menschen auf den Gipfel hieven könne, und die Erfolge der Vergangenheit schienen dies zu bestätigen. Er hatte darüber hinaus eine bemerkenswerte Fähigkeit an den Tag gelegt, auch die heikelsten Situationen zu meistern.
    1995 zum Beispiel mußten Hall und seine Bergführer nicht nur mit Hansens Problemen hoch oben im Gipfelbereich fertig werden, sondern auch mit dem totalen Zusammenbruch einer anderen Kundin, Chantal Mauduit, einer gefeierten französischen Alpinistin bei ihrem siebten Versuch, den Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff zu besteigen. Mauduit war bei 8750 Metern ohnmächtig aus den Pantinen gekippt und mußte »wie ein Sack Kartoffeln«, wie Cotter sich ausdrückte, den ganzen Weg vom Südgipfel zum Südsattel geschleppt und getragen werden. Nachdem alle den Gipfelversuch lebend überstanden hatten, dachte Hall vielleicht, daß es kaum etwas geben konnte, daß er nicht in den Griff bekam.
    Abgesehen von diesem Jahr, hatte Hall jedoch bisher immer ungewöhnlich viel Glück mit dem Wetter gehabt, was ihn vielleicht leichtsinnig werden ließ. »Rob hatte Saison für Saison«, wie David Breashears bestätigte, der mehr als ein Dutzend Himalaja-Expeditionen auf dem Buckel hat und den Everest bereits dreimal bestieg, »am Gipfeltag stets strahlend schönes Wetter. Er war noch nie von einem Unwetter hoch oben im Gipfelbereich überrascht worden.« Tatsächlich war der Sturm des 10. Mai zwar heftig, aber letztlich nichts Ungewöhnliches; ein mehr oder minder typischer Everest-Schneesturm. Wenn er zwei Stunden später hereingebrochen wäre, wäre wahrscheinlich niemand zu Schaden gekommen. Umgekehrt jedoch hätten

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