In eisigen Kerkern (German Edition)
und verschwand im Regen. Sie verließ ihre schützende Nische und rannte ihm nach.
„Nur eine Frage noch, und bitte, ich brauche eine ehrliche Antwort.“
Er blieb stehen und wandte sich ihr zu, ohne etwas zu sagen. Nelli sah, dass er unterhalb der Hüfte durchnässt war von den Windböen, die den Regen seitlich aus allen Richtungen herandrückten. Inzwischen musste man fast schreien, um sich verständlich zu machen.
„Die Leute hier behaupten, Andi lebt noch, manche wollen ihn sogar gesehen haben. Stimmt das, hat er überlebt? Ist er noch hier und versteckt sich irgendwo?“
„Ich habe gehört, dass man seiner ansichtig wird, aber mir ist er noch nicht begegnet. Kann sein, die Leute sehen auch nur, was sie gern sehen würden.“
„Oder jemand zeigt ihnen, was sie gern sehen würden.“
„Ich wüsste nicht, zu welchem Zweck.“
„Gerüchte in die Welt zu setzen kann gut fürs Geschäft sein. Ihnen geht’s doch auch nur darum, Ihre Pfarrstelle hier zu behalten.“
Nelli hatte den Eindruck, er schüttle den Kopf oder zucke mit den Schultern, aber unter dem Schirm und dem dichten, prasselnden Regen ging alles unter, was nicht laut gesprochen war. Der lange, schwarze Schatten drehte sich um und ging davon in Richtung Pfarrhaus.
„Hören Sie“, rief Nelli ihm nach, „ich müsste nur einen Anruf machen. Sie haben doch bestimmt ein Telefon.“
Er beachtete sie nicht, antwortete nicht. Den Schirm unmittelbar über den Kopf gezogen, sperrte er die Haustür auf, schlüpfte rasch unter die Deckung des kurzen Vordaches, schüttelte den Schirm aus und schloss mit einem dumpfen Geräusch die Tür.
Nelli wurde von Wut gepackt. Mit wenigen schnellen Schritten war sie an der Tür und hämmerte mit der Faust dagegen. Sie sah rechts an der Hauswand eine Klingel und ein Schild mit der Aufschrift „Pfarrbüro“. Mit der rechten Hand klingelte sie Sturm, während sie mit der linken ohne Unterlass an die Tür hämmerte, obwohl ihr schon die Fingerknöchel schmerzten.
Sie wusste, wie zwecklos und verrückt ihr Verhalten war, wie kurz sie vor einem Nervenzusammenbruch stand, aber sie konnte sonst nichts tun und wusste überhaupt nicht mehr, was sie noch tun konnte. Der einzige Ausweg war, die Herolder anzurufen und sich abholen zu lassen, wenn sie nicht bis München laufen wollte, und so klingelte sie und hämmerte und klingelte...
Über ihr ging ein Fenster auf. Sie trat einen Schritt zurück, öffnete die Lippen, um etwas Versöhnliches zu sagen – und bekam einen Schwall Wasser mit solcher Wucht ins Gesicht, dass sie nicht mal mehr den Mund schließen konnte. Sie hatte Luft holen wollen, sog jetzt stattdessen Wasser in die Lunge, verschluckte sich, zuckte vornüber und hustete, bis ihr die Tränen kamen.
Vor Schreck hatte sie den Schlafsack fallen gelassen. Sie sah ihn unter sich in einer Pfütze liegen, während sie hustete, sich mit Regenwasser verdünnte Tränen aus dem nassen Gesicht wischte, und weiter würgte und hustete, bis ihr alles weh tat.
Als sie sich endlich aufrichten konnte, bemerkte sie, dass der Pfarrer sie aus dem Fenster beobachtete. Erstmals sah sie sein hageres Gesicht in voller Länge, las darin Wut und Abscheu und Bereitschaft zu allem, was nötig war, um sie loszuwerden.
„Wenn Sie nicht gleich verschwinden, kann ich noch ganz andere Flüssigkeiten hinunterschütten“, rief er, schloss rasch das Fenster, um keine Erwiderung zuzulassen, und zog die Gardine vor.
„Jemand von euch will aber nicht, dass ich verschwinde“, schrie Nelli zurück. „Ich bin nicht freiwillig hier, verdammt noch mal!“
Kapitel 6: Was verbirgt der geheime Kellerraum?
Die Scheune war, wie erwartet, verrammelt.
Nelli hockte sich mit dem Rücken an die stachelige, kalte Holzwand, legte ihren durchweichten Schlafsack neben sich ab und starrte hinunter auf das nebelverhangene Bergdorf. Der Regen fiel leise und stetig, wurde vom böigen Wind zur Seite gedrückt, trommelte gegen die Holzwand, prasselte über ihr wie eine Maschinengewehrsalve aufs Dach, um schlagartig wieder abzuflauen und dann mit Wucht zurückzukehren. Die Wiesen ringsum glänzten dunkelgrün vor Nässe.
Nelli wünschte sich, eine Kuh zu sein. Die Rindviecher standen da 100 Meter weiter unbekümmert hinter ihrem Elektrozaun im Regen und glotzten vor sich hin. Als Kuh musste man sich um nichts kümmern. Das Gras wuchs einem ins Maul, Eigentum war nicht nötig, man hatte alles unter freiem Himmel und brauchte keine Ziele und Wünsche und
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