In eisigen Kerkern (German Edition)
kein dies und das, um sich gut zu fühlen.
Milch und Brot fielen ihr ein. Sie steckte die Hand in den patschnassen Schlafsack. Das Brot war darin zum glitschigen, kalten Matschebrei zerflossen. Nelli kämpfte gegen den Ekel an, ertastete die Milchflasche, die von Brotpampe verschmiert war, zog sie hervor, wischte sie mit der Außenhaut des Schlafsackes ab, schraubte sie auf und setzte sie an die Lippen. Zu spät erreichte der säuerliche Geruch ihre Nase – ein Schwall der verdorbenen Milch war ihr schon in den Mund geschwappt und den Hals hinuntergeflossen.
Nelli warf die Flasche weg, beugte sich zur Seite, spuckte aus, würgte und erbrach schließlich das Wenige, das sie noch im Magen gehabt hatte. Jetzt hatte sie gar nichts mehr. Weniger als die Kühe, die hatten wenigstens ihr Gras – aber auch mehr als die Kühe: Denn Nelli hatte immer noch ihre Freiheit. Und sie war einigermaßen bei Kräften.
Sie stand auf, ließ Schlafsack und Milchflasche liegen, wo sie waren, und folgte der Straße bergauf.
Kaum war es dunkel, sahen alle Kurven vor Nelli gleich aus. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, wie spät es war und wie weit und hoch sie noch zu gehen hatte bis zum Pass. Fuß vor den anderen und bergauf, hinter jeder Kurve meinte sie gleich am Ziel zu sein, und wieder folgte nur eine weitere Kurve mit links Abhang und rechts Steilhang.
Hatte der Regen auch aufgehört, ihr T-Shirt hing doch schwer und kalt an ihr und ließ sie trotz der inneren Erhitzung bibbern. Sie fühlte sich fiebrig, die Füße taten ihr weh, sie spürte Blasen an beiden Fersen.
Als endlich ein erstes Vibrieren des Generators zu hören war und der unnatürlich eckige Hausschatten hinter den natürlich eckigen Felskanten hervortrat, beschleunigte Nelli unwillkürlich ihre Schritte – bis ihr Weg vor verschlossener Tür endete. Nichts mehr mit Wanderernotquartier wie zu Andis Zeiten. Wächter-Zeiten waren Sicherheitsverriegelungs-Zeiten. Sie umrundete das Haus, tastete sich an der Wand entlang, ertastete sich den Hintereingang.
Schloss und Riegel, genau wie vorne.
Erst mal die Füße untersuchen, irgendwas war da los. Die Nässe war nicht nur Regenwasser, sondern klebte und schmierte. Nelli hockte sich auf die Schwelle der Hintertür und zog den rechten Schuh aus, wo es etwas scheußlicher an der Ferse stach und brannte als links. Wie erwartet: Blase, Blase aufgegangen, Haut dahinter wundgerieben. Beide Fersen blutverschmiert.
Auch schon egal. Nelli trat ihre alten Latschen hinten runter und zog sie an wie Schlappen.
Sie stand auf, umrundete das Haus und war schon halb über den Parkplatz, als sie ein Auto kommen hörte. Ein Tourist war das ganz sicher nicht um diese Zeit – zudem war der Pass nach wie vor nachts gesperrt. So schnell es ging schlurfte Nelli zurück zum Haus und duckte sich hinter die Wand. Das Autogeräusch war wieder leiser geworden, was daran lag, dass Nelli jetzt wieder näher am röhrenden Generator stand.
Das konnte doch nicht so lange dauern, bis der in Sichtweite kam!
Gerade wollte sie ihre Deckung verlassen, als das Licht von Autoscheinwerfern um die letzte Kehre vor dem Parkplatz herantanzte. Fuhr der mit Abblendlicht? Und warum so langsam. Der Motorklang kam ihr bekannt vor.
Es war Rolfs halbtote Ente. Schon auf der Autobahn hatte er mit Mühe 80 geschafft, hier am Berg, den Pass hoch, hatte er dem ächzenden Wrack wohl den Rest gegeben. Nelli erwartete beinahe, dass auf den letzten Metern irgendein Teil scheppernd zu Boden krachte, aber die Ente schaffte es bis zum Haus und kam schaukelnd zum Stehen. Der Motor erstickte, das Licht verlosch, die Tür ging quietschend auf.
Rolf, also doch! Was wohl hätte der hier zu suchen, wenn er nicht irgendwie in die Erpressungsgeschichte verwickelt wäre?
Nelli sah seinen Kopf zwischen Tür und Autodach auftauchen, ihn sich halb ausgestiegen vorsichtig umschauen und dann sich aus seiner Deckung hervorwagen. Sie war kurz davor, ihr eigenes Versteck hinter dem Hauseck zu verlassen und ihn zur Rede zu stellen. Egal, welche Rolle er spielte, was er hier wollte – mit dem Bürschchen würde sie ja wohl noch fertig werden!
Geduckt schlich er die zwei, drei Meter von seinem Gefährt zum Haus. Nelli musste trotz der abwegigen Situation schmunzeln: Versteckspiel auf dem Präsentierteller. So verhält sich doch niemand, der einen Plan verfolgt und genau weiß, was er tut. Sie war schon halb um die Ecke und wollte „He, Rolf!“ rufen, da tat er etwas, das plötzlich
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