In eisigen Kerkern (German Edition)
Pfarrer war nicht zu Hause. Überhaupt niemand war auf dem Platz um die Kirche bei dem Wetter. Die Kirchentür war zugesperrt.
Nelli verzog sich unter den Torbogen eines Seiteneingangs, schüttelte sich und sah einen weiteren Tiefpunkt erreicht.
Wohin nun? Zurück zum Pass und von dort aus die Herolder anrufen? Aber was, wenn Wächter oder seine Mitarbeiter gehört hatten, was sie zuletzt am Telefon besprochen hatte? Was, wenn sie alle drei ihr Quartier da oben hatten, Wächter, Gerda und Andi?
Es war jetzt früher Nachmittag. Bis sie oben sein würde, wäre es Abend oder gar Nacht. Dort oben würde sie sich trocknen und ausruhen können. Vielleicht war ja doch nichts dahinter, alles harmlos, alles nur Fantasie.
Es grauste Nelli vor dem Gedanken, als einzigen Unterschlupf hier unten die Scheune zu haben, in der sie zuletzt übernachtet hatte, dort diesmal nass in einem durchweichten Schlafsack sich in den Schlaf zu bibbern – sofern der Bauer nicht nach der morgendlichen Begegnung mit ihr ahnungsvoll das Scheunentor versperrt hatte.
Den Pfarrer hatte sie als einzigen Ausweg aus der Misere gesehen, in die sie hier geraten war. Natürlich war da noch der Aichinger mit seinem Hasenhaus...
Nelli war gerade kurz davor, ihre Lage mit Humor zu betrachten, da kam von rechts ein schwarzer Schatten durch den Regen heran. Ehe sie reagieren konnte, stand er schon vor ihr und versperrte ihr den Fluchtweg.
Unter einem schwarzen Regenschirm steckte ein langer, dünner Körper in einem schwarzen Gewand, aus dem unten ein paar schwarze, regenglänzende Schuhspitzen hervorsahen. Knochige Finger umkrallten den schwarzen Schirmgriff.
„Ich möchte Sie bitten, von hier fortzugehen“, krächzte eine hohe Stimme unter dem Schirm hervor.
„Sind Sie der Pfarrer?“
„Ja. Es ist nicht gut, wenn Sie sich hier aufhalten. Die Leute haben mir erzählt, wer Sie sind.“
„Aber ich weiß nicht, wohin. Es regnet, und ich bin ganz allein. Ich hatte gehofft, ich könnte für heute Nacht bei Ihnen unterkommen.“
„Das geht auf keinen Fall. Wir haben hier auch keinen Fonds für Obdachlose, aus dem ich Ihnen etwas geben könnte, falls Sie das gehofft hatten.“
„Nein, ich bin nicht zum Betteln hier. Eigentlich will ich nur mal telefonieren. Mich trocknen und aufwärmen.“
„Wenn Sie nicht mehr zurück zum Pass wollen, dann gehen Sie doch in die andere Richtung zum nächsten Dorf. Die Leute dort nehmen Sie vielleicht auf. Und wenn das Wetter besser wird, sollten Sie in Ihre Heimat zurück, wo immer das ist. Hier in den Bergen sind Sie ganz falsch.“
Nelli zitterte und konnte kaum ihre Stimme beherrschen. Die Beulen und Wunden, die inzwischen angefangen hatten zu heilen, begannen durch die Nässe und die Kälte weitflächig auszustrahlen und zu schmerzen.
„Aber, ich habe kein Geld, und das Wetter...“
„Gott hilft Ihnen, mein Kind. Auch in der größten Not ist er ganz gewiss da und...“
„Bisher ist er nie da gewesen, wenn ich ihn gebraucht hätte. Sie sind doch so was wie sein Mitarbeiter. Bestimmt würde er wollen, dass Sie mir helfen.“
„Gott hat mich in diese Gemeinde geschickt, damit ich für die Leute hier sein Werk tue. Ich bin ihnen verpflichtet, ganz allein den Menschen hier.“
Nelli sah seinen Mund reden. In der Düsternis des Regens unter dem Halbdach und dem Schirmrand hatte sie bisher noch nichts vom Gesicht des Pfarrers gesehen als das stoppelige Kinn und den schmalen, bläulichen Mund.
„War Andi eigentlich Mitglied Ihrer Gemeinde?“
„Aber sicher. Jeden Sonntag kam er mit seinem Motorrad vom Pass heruntergefahren zum Gottesdienst, im Winter mit seinem Lastwagen.“
„Dann denken Sie wohl auch, dass er ganz in Ordnung war?“
„Es steht mir nicht zu, meine Gemeindemitglieder vor Fremden zu beurteilen. Ich weiß nur, dass er geholfen hat, wenn er gebraucht wurde. Er war immer da und wurde sehr gemocht. Er hat sogar seinen Hüttenbetrieb für einen Tag geschlossen und auf Einnahmen verzichtet, wenn hier unten Not am Mann war. Keiner versteht, was jetzt über ihn behauptet wird. Es bringt das ganze Dorf in Verruf.“
„Aber das ist doch nicht meine Schuld.“
„Bevor Sie gekommen sind, war alles in Ordnung. Für den Sommer war das Dorf ausgebucht mit Feriengästen, aber vor zwei Wochen haben alle abgesagt, fast auf einen Schlag.“
„Aber...“
„Nein, ich mag jetzt nicht mit Ihnen diskutieren. Gehen Sie, bitte. Gleich!“
Bevor Nelli noch nachsetzen konnte, hatte er sich umgedreht
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