In eisigen Kerkern (German Edition)
gar nicht mehr nach Ängstlichkeit und Lausbubenstreich aussah: Kaum hatte er festgestellt, dass die Haustür versperrt war, zog er etwas aus der Hosentasche, fummelte damit in Bauchhöhe herum und knackte in Sekundenschnelle das Schloss.
Sofort drückte sich Nelli wieder hinter ihre Ecke zurück, sah ihn eindringen und die Tür von innen schließen.
Was nun? Ihm hinterher? Warten, was er anstellte? Mal durch die Fenster spitzen? Oder schauen, ob der Autoschlüssel steckte? Da hatte sie doch ihr Taxi nach München!
Der Autoschlüssel steckte nicht.
Nelli rannte geduckt von der Ente zurück zum Haus, drückte sich an der Wand entlang und huschte zwischen Garagentrakt und Haus um die Ecke. Wenn sie sich streckte und auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie gerade so durchs Fenster der Wirtsstube linsen. Die Nacht war wolkenlos, der Halbmond stand im Dunst zwischen zwei Berggipfeln, schien durch das zum Parkplatz gelegene Fenster direkt auf den Boden vor den Tresen und beleuchtete zur Hälfe einen Tisch und zwei Stühle. Man konnte alles im Raum erkennen. Rolf war nicht oder schon nicht mehr da.
Weiter zum Küchenfenster. Zu hoch, alles Strecken half nichts. Sie hätte sich hochziehen müssen, aber erreichte mit den Fingerspitzen gerade mal so das Fensterbrett. Aus dem Fenster hatte sie damals springen wollen auf der Flucht vor Andi.
Weiter zum Hintereingang. Keine Fenster, nur eine Milchglasscheibe in der Hintertür. Sie drückte sich an das verwitterte Holz, hob ihr Ohr zum Glas und lauschte. Nichts. Oder der Generator hier draußen war einfach zu laut. Rolf hätte schon heftig da drin rumoren müssen, dass man es hier draußen noch gehört hätte.
Weiter um die nächste Ecke, zu Andis Studierzimmer. Wie erwartet waren die Vorhänge zugezogen. Das Generatorbrummen war hier deutlich dumpfer, aber nicht gedämpft genug, um hören zu können, ob etwas im Haus vor sich ging.
Um die vierte Ecke und damit zurück zur Vorderfront. Die Ente stand da noch, die windige Tür knickte im 45-Grad-Winkel vom Fahrzeug weg.
Was nun? Sie hätte ihm gleich ins Innere folgen sollen. Nun war es zu riskant. Was, wenn er ihr gerade entgegenkam, wenn sie reingehen wollte?
Na, was wohl? Dann würde sie ihn zur Rede stellen. Das war Rolf, der kleine scheue Rolf, der kein Praktikum bekam – nicht der tückisch-gefährliche Andi. Sie würde ihn derart erschrecken, wenn sie plötzlich vor ihm stand, dass er freiwillig auspackte, und danach würden sie zusammen zurück nach München fahren. Also, komm schon Nelli, zur Haustür!
Sie verharrte hinter ihrer Ecke. Hinter ihrer Ecke war sie auf jeden Fall sicher, zumindest, wenn sie sich immer mal umdrehte, ob nicht von hinten jemand angeschlichen kam. Lieber mal abwarten. Warten, verdammt lang warten. Wieso dauerte das so lang? Vielleicht täuschte das auch. Ohne Uhr, müde und ausgezehrt wie sie war, hing die Zeit für sie wie der verharrende Mond im nächtlichen Raum.
Nelli begann zu zittern, bevor sie überhaupt merkte, dass sie fror. Der Schweiß vom Aufstieg nässte kalt und schwer ihr T-Shirt, die Körperhitze war verflogen. Sie konnte nicht ewig hier stehen. Bald würde das große Niesen beginnen, wenn sie sich nicht bewegte. In Andis Lagerraum auf dieser Seite der Vorderfront hatte sie noch nicht gespitzt. Er lag am höchsten Punkt der Bergebene, damit war das Fenster niedrig genug. Die Vorhänge standen einen Spalt offen. Ein Stück Regal war zu sehen, aber nichts, was sich identifizieren ließ, nichts, was sich bewegte.
Ohne zu überlegen rannte Nelli geduckt weiter zur Haustür. Lauschte. Nahm die Treppenstufe. Drückte leise, ganz langsam gegen die Tür.
Nur angelehnt. Der bekannte Vorraum zur Wirtsstube, zu den Toiletten, zu Andis Privatraum. Links der hohe Wandspiegel mit den Altersflecken. Nelli meinte, ein fernes Rumpeln zu hören. Vor Schreck ließ sie die Tür los. Sie fiel leise zu und klickte ins Schloss. Das Rumpeln war direkt vor ihr im hinteren Teil des Hauses erklungen, der sich auf direktem Weg nicht erreichen ließ, sondern entweder durch Lager- und Privatraum rechts herum oder durch Wirtsstube und Küche links herum.
Was suchte Rolf nur da hinten? Gut möglich, dass er immer noch hinter einer Story her war, die ihm Zutritt zu einem Praktikumsplatz verschaffen würde. Wenn es das war, konnte Nelli ruhig weiterschleichen, die Tür zur Wirtsstube öffnen und hineingehen, denn dann war alles ganz harmlos, eine Begegnung mit ihm nicht zu fürchten.
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