In eisigen Kerkern (German Edition)
Aufbruch verpackt und konserviert hatte wie Szenen aus einem Film, mit dem sie nichts zu tun hatte, sprengten diese Verpackung jetzt und kamen zurück als die ihren. Sie waren es die ganze Zeit gewesen: schmerzliche Erinnerungen an ein abgebrochenes, abgeschlossen geglaubtes Leben. Das war ich, dachte Nelli, und heulte eine Viertelstunde lang nur wegen dieses einen Fotos.
Aber da waren noch andere: Nelli, noch als geborene Meikner, mit Teenager-Pausbacken bei einer Party mit viel zu weit aufgeknöpfter Bluse und mehreren Cocktails im Blick; Nelli in stürmischer Umarmung mit ihrem ersten Freund, dem sie auf dem Foto, kindisch bis zur Peinlichkeit, mit zwei gestreckten Fingern hinter seinem Kopf Hasenohren verpasst hatte; Nelli im Bikini im Hofer Freibad im Sommer 1983, wie die Bildunterschrift verriet – die Jahreszahl hätte sie selbst gar nicht mehr gewusst.
Stefanie musste sämtliche Fotoalben, die Nelli bei ihrer Flucht zurückgelassen hatte, nach möglichst anstößigen und blamablen Aufnahmen durchsucht haben. Vielleicht hatte sie auch das ganze Album an den Verlag verkauft, und die Herolder hatte selbst ausgewählt.
So gründlich sie anhand von Fotos und kleinen Geschichten ihre Hauptfigur Nelli Prenz einführte, so liebevoll detailliert zeichnete sie auch den Antagonisten Andi Czernowski. Es war das erste Mal, dass Nelli mit dem Nachnamen ihres Peinigers konfrontiert wurde, und sie staunte schon ein bisschen über den fremden Klang – wobei Müller oder Hinterhuber erst recht nicht zu dem Bild gepasst hätte, das sie von ihrem Beinahe-Mörder in sich trug.
Jedenfalls, der kleine Andi hatte seine Kindheit zwischen Felsen und Eis am Pass verbracht und musste, kaum dass er laufen konnte, im Hüttenbetrieb mit anpacken. Seine strengen, fleißigen und fundamentalistisch katholischen Eltern ließen ihn nur auf Druck der Behörden überhaupt die Volksschule im Tal besuchen.
Andi sei als Bub strebsam, bescheiden, zu allen höflich, an allem interessiert, offen und zugänglich gewesen – so wurde ein früherer Mitschüler im Artikel zitiert. Immer wieder habe er sich von der Lehrerin Bücher ausgeliehen, die weit über den Schulstoff hinausreichten. Vor allem der Straßenbau in schwer zugänglichen Gebirgsregionen habe ihn brennend interessiert. Architekt sei sein Traumberuf gewesen. Regelmäßig habe sich die Lehrerin hoch zum Pass begeben, um die Eltern zu beknien, Andi auf eine weiterführende Schule zu schicken. Vergeblich.
Und so weiter. Der Lebenslauf eines liebenswerten, fast beispielhaften Zeitgenossen. Andi von nebenan, der nette Kerl, das arme Opfer.
Nelli indes: rebellisch bis rüpelhaft, schlecht in der Schule, verzogenes wenn nicht gar verdorbenes Kind wohlhabender Eltern, reich verheiratet, im Luxus schwelgend, früh verwitwet, aber daran nicht gereift oder gar erwachsen geworden. Im Gegenteil, sie habe die ererbte Firma mangels Interesse und Verantwortungsbewusstsein nahezu in den Ruin getrieben und 17 Arbeitsplätze im ohnehin strukturschwachen Nordostoberfranken vernichtet, bevor als eine Art gottgleiche Saniererin Schwägerin Stefanie Holwagen, gebürtige Prenz, beherzt eingegriffen und dem Unternehmen neues Leben eingehaucht hatte. Und dann natürlich die Sache mit Monika, auch hier wieder Nelli als die rabenschwarze Seele und Stefanie als der rettende Engel.
Das Schlimme an der ganzen Geschichte war: Es stimmte alles hundertprozentig. Der Artikel war eben kein rührselig-kitschiges Boulevard-Machwerk, sondern seriös, absolut fundiert, unanfechtbar. Was sie da las und auf Bildern sah, traf Nelli bis ins Mark und wühlte den ganzen Dreck, der sich so schön gesetzt hatte, in ihr wieder hoch. Die scheinbar große Tat des ehrlichen Gespräches mit Monika wurde zur reinen Selbstrechtfertigung zum Zwecke der Gewissensberuhigung. Keine Aufarbeitung, kein Schlusspunkt, keine Erlösung. Kein Neuanfang.
Nicht mal davonlaufen konnte sie.
Wollte sie auch gar nicht. Sie würde aufarbeiten, das beschloss Nelli, während sie das kalte Gulasch löffelte, würde das Ding durchziehen, nicht allein aus finanziellen Gründen, sondern um sich zu stellen. Aber sie würde sich nicht jagen lassen, sondern den Lauf der Ereignisse selbst in die Hand nehmen.
Als Nelli schließlich das Verlagsgebäude betrat und den Aufzug hoch zum Büro der Herolder nahm, hatte sie trotz stundenlangen Grübelns keine Ahnung, was sie sagen würde. Es kam ja sowieso immer anders als man es plante.
Und in diesem Fall kam es
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