In eisigen Kerkern (German Edition)
auf.
„Kann ich bitte mal sehen?“
Bereitwillig drehten die Frauen ihr die aufgeschlagene Illustrierte hin. Nelli stellte Gulasch, Wasser und Äpfel ab und griff danach.
„Also, das ist ja ein Zufall, dass sie gerade hier einkaufen“, rief eine der Frauen, und Nelli kam sich vor wie ein Rockstar.
Diese verlogene Herolder! Da war der Einführungsartikel zur Serie – über sechs Seiten ausgebreitet und mit Bildern garniert, die in Nelli Verblüffung, Schmerz und kalte Wut gleichermaßen auslösten.
„Sie sind auch vorne drauf“, rief eifrig eine der beiden Frauen. Nelli blätterte die Zeitschrift zu und sah sich und ihr Fahrrad die volle Titelseite ausfüllen. Es war eines der Fotos, die gestern nebenan im Wald gemacht worden waren: Nelli breitbeinig in scheinbarer Wildnis, ihr Fahrrad zwischen den Beinen, ernster, fester Blick und darüber eine Headline, die ihr die Schamesröte ins Gesicht trieb: „Die Drachentöterin“
Nelli gab den Frauen ihre Zeitschrift zurück, wandte sich dem Kiosk zu und brauchte nicht lang zu suchen: Die Sonderausgabe der neuesten Von Frau zu Frau – die Anspruchsvolle steckte ganz vorne in der Mitte der obersten Zeitschriftenreihe. Nelli zog ein Exemplar hervor, zahlte einen Euro dafür und verließ so schnell wie möglich den Supermarkt.
Erst mal lesen, das Ganze. Es verarbeiten und darüber nachdenken. Dann erst zur Herolder und sie zur Rede stellen, warum zum Donnerwetter sie gestern mit dem Erscheinungstermin so frech gelogen hatte. Die würde was zu hören bekommen!
Nelli blieb die Spucke weg, als sie den Artikel las. Sie hatte sich das Schlimmste ausgemalt und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es so schlimm dann doch nicht werden würde. Sie hatte der Herolder viel Oberflächliches und ein paar pikante Details berichtet. Selbst wenn sie noch so viel dazu dichtete und die Fakten aufplusterte und verdrehte, es konnte keine Story dabei herauskommen, die Nelli völlig ins falsche Licht rückte. Oder, noch schlimmer: so darstellte, wie sie wirklich war.
Die Reporterin aber hatte recherchiert, und das so gründlich, dass Nelli sich nackt ausgezogen und am Pranger zur Schau gestellt fühlte, als sie den Artikel las. Das, was sie selbst über ihre Reise, ihr Martyrium am Gletscher und über ihr Leben insgesamt erzählt hatte, war nur ein Baustein der Geschichte. Die Herolder musste mit der halben Welt telefoniert haben, um an all die anderen Details zu kommen: mit Schulfreundinnen offenbar, ganz klar auch mit Stefanie und mit der Polizei.
Sogar der Radabenteurer Gerald Hetzhofer, den Nelli in Vancouver kennengelernt und mit dem sie ein paar Wochen lang Richtung Süden über den Highway No. 1 geradelt war, wurde mehrfach zitiert. Von ihm war wohl auch das einzige echte Unterwegs-Foto, ein recht schöner Schnappschuss von ihr, windzerzaust an der Pazifik-Küste in der Hocke vor blauem Meer, ihr Fahrrad liegend neben sich.
Was mochte der Knilch wohl für dieses Foto und seine Wortbeiträge eingestrichen haben? Nellis Wut biss sich daran zunächst fest, und sie spürte auch Neid aufkommen. Dieser Hetzhofer, so nett und kollegial sie ihn erlebt hatte, war auch ein knallharter und eiskalter Selbstvermarkter, anders konnte man in seinem ungewöhnlichen Job nicht überleben.
Nelli hatte ihn damals schon dafür beneidet: Er lebte wie sie, frei und ungebunden, in der ganzen Welt zu Hause – und verstand es, durch Reiseberichte und Diavorträge mit seiner Leidenschaft auch noch ordentlich Geld zu verdienen. Mit Sicherheit hatte der für sein Interview in Sachen Nelli Prenz bereits abkassiert, während Nelli selbst, deren Story es ja war, nach wie vor am Limit vegetierte.
Der Beitrag Hetzhofers war nur die Spitze des Eisberges, von dem Nelli sich beim Verarbeiten des Artikels gerammt und erdrückt fühlte. Ein Unding, dass dieses Foto von ihr an der kalifornischen Küste in der Zeitung war, bevor sie es selbst auch nur gesehen hatte.
Schlimmer aber trafen sie Bilder, die sie nie zur Veröffentlichung freigegeben hätte. Ihr Hochzeitsfoto zum Beispiel. Nelli kamen die Tränen beim Anblick der kleinen, leicht unscharfen Aufnahme, die sie schmerzlich an einen wirklich sehr schönen Tag erinnerte. Das Foto gehörte ihr nicht mal mehr, sie hatte es mit allem übrigen Besitz bei ihrem Aufbruch zurückgelassen.
Nelli starrte das Bild an, in ihrem nassen Zelt im Schneidersitz hockend, die Gulaschdose neben sich, und spürte eine erste Träne. All die Erinnerungen, die sie nach ihrem
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