In eisigen Kerkern (German Edition)
hatte sie sich, trotz aller Angst, immer sehr behaglich im Schutz ihres kleinen Zeltes gefühlt. Jetzt war da nur noch Unbehagen.
Nelli wollte sich gerade wegdrehen, die Augen schließen und trotz Blitz und Donner endlich versuchen einzuschlafen, da erschien an der Leinwand ihres Zeltes etwas anderes als der Schemen des Waldes – der Schatten einer menschlichen Gestalt.
Mit einem Ruck fuhr sie hoch.
Augenblicklich raste ihr Herz, sie keuchte leise und fühlte sich wie einem Raubtier zum Fraß vorgeworfen.
Hastig tastete sie nach ihrer Satteltasche und nach etwas, das sich als Waffe verwenden ließe. Ihr Reizgasfläschchen hatte sie an Andi verbraucht, es hatte ihr im Gletscher das Leben gerettet. Warum hatte sie es nicht ersetzt? Mangels Geld? Wohl eher, weil sie dachte, dass ihr so etwas kein zweites Mal passieren würde.
Der nächste Blitz. Die Gestalt war immer noch da, schien jetzt direkt am Zelt zu stehen. Nelli durchwühlte in Panik ihre Sachen. Ihn oder sie mit dem Tagebuch erschlagen oder mit dem Kleid erdrosseln, das waren ihre Optionen. Aber da war auch etwas Kleines, Metallisches, Kaltes. Nelli zog es aus der Tasche, steckte es sich in den Mund und blies mit Leibeskräften hinein.
Das war so ein alter Weltenbummler-Trick, der angeblich immer funktionierte als Schutz gegen Überfälle: der gellende Ton einer Trillerpfeife. Ein Biker, den sie in Dallas getroffen hatte, erzählte ihr, dass er damit einen nächtlichen Überfall in einem Hotelzimmer in irgendeinem Kaff in Südamerika gerade noch hatte verhindern können. Ein anderer hatte mit der Trillerpfeife einen Messerstecher auf dem Marktplatz von Neu-Delhi vertrieben.
Aber hier, mitten im einsamen deutschen Wald, wer sollte das Pfeifen da hören und ihr zu Hilfe eilen? Im markerschütternden Gewitterdonner und laut prasselnden Regen drang es ohnehin kaum über ihren Zeltplatz hinaus.
Egal, Nelli pfiff so laut und lange sie konnte.
Beim nächsten Blitz war die Gestalt verschwunden.
Am nächsten Morgen war sich Nelli nicht mal mehr sicher, ob sie wirklich etwas gesehen oder im Halbschlaf zusammengeträumt hatte. Wer war schon bekloppt genug, bei sintflutartigen Regenfällen um das Zelt einer Landstreicherin herumzuschleichen? Andi schon, wäre er noch am Leben, aber der hätte sich nicht von einer Trillerpfeife vertreiben lassen.
Der Bereich um das Zelt war ein Schlachtfeld aus Matsch, hellbraun-verschlammten Pfützen und vom Sturm abgerissenen Ästen.
Fußspuren: Fehlanzeige.
Es hatte aufgehört zu regnen, war aber trüb und kühl. Bei diesem Wetter würde das Zelt tagelang nicht trocken werden. Nellis Stimmung war wieder am Nullpunkt. Früher hatte sie an Vormittagen wie diesen ihr Zeug eben nass zusammengepackt, war dem Wetter davongefahren und hatte sich einen sonnigen Platz gesucht, um alles zum Trocknen auszubreiten. Nun aber – wohin sollte sie?
Sie beschloss, den Lagerplatz beizubehalten, auf besseres Wetter zu hoffen und jetzt erst mal einen Ausflug Richtung Stadt zu unternehmen. Sie brauchte Wasser und etwas Abwechslung. Nachmittags war dann Schreiben und Planen angesagt.
Als sie einen Supermarkt unweit des Verlags betrat, glotzten zwei Frauen am Eingang sie unverhohlen an, steckten bei ihrem Anblick die Köpfe zusammen und tuschelten. Nelli sah an sich herab: alles sauber und ordentlich – nichts jedenfalls, was Aufmerksamkeit erregen müsste. Blöde Hennen.
Sie verzichtete auf einen Einkaufswagen, trug zwei Flaschen Mineralwasser, zwei Äpfel und eine Dose Gulasch per Hand zur Kasse und sorgte auch da wieder für erstaunte Blicke.
„Ist was?“, fragte sie die Kassiererin.
Die schüttelte nur den Kopf und rechnete ihre Sachen ab. Nelli verkniff es sich, zu fragen, wo man hier ein Fläschchen Reizgas bekommen könne. Irgendwo in der Stadt würde sie schon ein Waffengeschäft oder so was finden.
Als sie weit genug in den Ausgangsbereich getreten war, dass die Schiebetür ansprang, fühlte sie sich abermals angestarrt. Sie schaute schräg hinter sich, wo zwischen Ein- und Ausgang des Supermarktes eine Bäckerei und ein kleiner Kiosk untergebracht waren. Zwei Frauen hielten eine Zeitschrift aufgeschlagen, betrachteten irgendwas darin und sahen dabei immer wieder zu ihr herüber.
Da endlich klingelte es bei Nelli.
Aber das konnte doch nicht sein!
Mit schnellen Schritten war sie bei den beiden Frauen. Die erschraken, aber taten auch sehr ehrfurchtsvoll. Nelli schnappte den Satzfetzen „...siehst du, das ist sie...“
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