In eisigen Kerkern (German Edition)
Spleen war das gewesen! Was sollte sie mit einem derart teuren Fetzen? Selbst wenn sie nicht knapp bei Kasse gewesen wäre und gewusst hätte, dass es mit der ersten Rate so lange dauern würde, hätte sie sich das verkneifen müssen.
Indes, der Kauf hatte symbolischen Wert für sie gehabt, und deshalb hatte sie ihn sich eben nicht verkneifen können. Ihren Abschied aus dem Schoß der Gesellschaft vor sieben Jahren hatte sie mit dem symbolischen Akt vollzogen, sich Fahrradklamotten zu kaufen und ihr Kleid zu entsorgen. Nun wollte sie mit der Umkehrung des Aktes ihren Neuanfang besiegeln: Weg mit T-Shirts und Radlerhosen, zurück in die schmeichelnde Geborgenheit der Kaufhaus-Warenwelt für elegante Damen.
Von wegen!
Das Kleid hatte sie überhaupt nur anprobieren dürfen, weil sie vorher den Kaufpreis in bar hingeblättert hatte. Und selbst da war der Verkäuferin ihre Anwesenheit merklich unangenehm geblieben. Schon in dem Moment hätte sie aus ihrem Blütentraum aufwachen und ihr Geld wieder einstecken müssen.
Aber sie hatte ja auch ernsthaft geglaubt, die Herolder hätte sie so abgelichtet haben wollen, wie sie ihre Tour begonnen hatte: als feine Dame auf einem alten Herrenfahrrad. Das war schließlich das Besondere an ihrer Tour gewesen und der Unterschied zu besagten Oberlehrer-Studienreisen, die in der Regel über Monate geplant und mit teuerster High-Tech-Ausrüstung gestartet wurden.
Pfeif drauf, passiert ist passiert. Nelli steckte die Tüte mit dem Kleid und den anderen neuen Sachen in die linke Satteltasche, bedeckte damit ihr Tagebuch, das sie nicht aufgeschlagen hatte, seit sie es Andis toten oder vielleicht doch nicht so toten Händen entwunden hatte, und machte eine Bestandsaufnahme der praktischen Dinge, vor allem der Nahrungsmittelvorräte und des Bauchbeutel-Inhalts.
Was dabei zusammenkam, waren Essen für zwei, drei Tage und Geld für vier, fünf weitere Tage. Auf dem Girokonto war außerdem noch eine kleine Lücke von rund 100 Euro bis zum Überziehungslimit. Mit etwas Glück und zusammengebissenen Zähnen würde sie die zehn Tage über die Runden kommen können.
Und dann würde sie ihr Geld bekommen, egal was die Herolder ihr über gestiegene oder nicht gestiegene Verkaufszahlen erzählte. Denn Nelli hatte tatsächlich etwas in der Hand. So abstrus das war, aber ihre Situation hatte auch ihre Vorteile: Sie hatte nichts mehr zu verlieren.
Wenn die sich weigerten zu zahlen, dann ging sie eben zu einer anderen Zeitung. Die Herolder hatte geblufft. Mit dem, was sie an Informationen hatte, bekam sie einen passablen Einstieg hin, aber eben keine zehnteilige Serie und schon gar kein Buch. Sie war auf weitere Interviews angewiesen. Und wenn Nelli ihr die verweigerte, was sollte sie tun – sie verklagen?
Nelli musste lächeln und schöpfte neuen Mut. Der neue Mut reichte sogar für Pläne, wenn auch nur ganz kleine, aber das war besser als nichts. Sie würde die zehn Tage und Nächte hier in diesem Wald campieren. Hier war sie gut versteckt und zugleich vor Ort, war sprungbereit für spontane Interviews und hatte die Großstadt mit ihren Versorgungsmöglichkeiten um die Ecke.
Nutzen würde sie die zehn Tage, um in sich zu gehen, sich genau zu überlegen, welche Informationen sie der Herolder preisgeben würde und welche nicht, um endlich ihr Tagebuch fortzusetzen, Bilanz zu ziehen und ihr weiteres Leben zu planen. Das waren die letzten zehn Tage ohne feste Bleibe, das nahm sie sich ganz fest vor. Es würde alles gut ausgehen.
Der Schlaf in dieser Nacht ließ auf sich warten. Nelli starrte die Zeltdecke an, lauschte dem Rumoren eines heranziehenden Gewitters und sehnte sich nach dem weichen, warmen Hotelbett zurück. Statt des Menüs Mediterrane am Vorabend im Hotelrestaurant hatte es an diesem Abend wieder kaltes Dosengulasch gegeben, dazu abgestandenes Mineralwasser und Mückenstiche. Mangels Waschgelegenheit hatte sie mit klebriger Haut in den Schlafsack kriechen müssen. Und nun, zu allem Überfluss, zog das Gewitter näher und näher.
Nelli konnte nicht begreifen, wie sie ein solches Leben sieben Jahre lang nicht nur ausgehalten, sondern sogar genossen hatte. Lag es daran, dass dieses Leben ihr als Vorwand gedient hatte, nicht nach Hause zu fahren und reinen Tisch zu machen?
Nelli starrte in Richtung des heranziehenden Gewitters, lauschte dem Donner und betrachtete das Schauspiel, wie sich die Silhouette des Waldes im zuckenden Blitzlicht an ihrer Zeltwand abzeichnete. Bei Unwetter
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