In eisigen Kerkern (German Edition)
drehte sich um zur Tür.
„Nelli?“
Er kam zu ihr herum und versperrte ihr den Weg.
„Eine Sache noch, in ihrem Interesse. Ob Sie nun über wenig Geld verfügen oder bald mehr haben, Sie sollten es nicht dafür verschwenden, in irgendeiner Form gegen mich vorzugehen.“
„Nun drohen Sie mir also doch.“
„Nein, wirklich nicht.“
Nelli hatte auch nicht das Gefühl, bedroht zu werden, nach wie vor nicht. Das Gefühl war trotz aller Worte: Der meint es gut mit mir. Wie damals bei Andi.
„Ich hab mich nur gründlich abgesichert. Mein Betrieb ist unanfechtbar. Sie würden nichts erreichen und nur Ihr Geld verlieren. Machen Sie mit oder vergessen Sie, was Sie hier gesehen haben.“
Wie würde sie das je vergessen können? Es begann in Nelli zu arbeiten, schon während sie ihr Fahrrad aus dem Haus und über den Parkplatz zur Straße schob, aufstieg und anrollte.
Sie drehte sich um, sah das Haus kleiner werden und blieb fest auf der Bremse, um bloß nicht zu viel Fahrt zu machen. Von hier sah sie übers Haus hinweg bis hin zum Buckel, hinter dem der Gletscher lag. Ein Fleck in der Ferne kroch über diesen Buckel: Andis Laster, beladen mit Touristen, auf der Rückkehr vom Schauplatz des Schreckens. Dorthin musste sie auch noch mal, unbedingt. Aber nicht, so lange im Stundentakt Schaulustige herangekarrt wurden.
Während sie mit quietschenden Bremsen im Schritt-Tempo die nächste Kehre nahm und aus Sichtweite des Hauses geriet, versuchte Nelli sich vorzustellen, was die Leute wohl dachten und welche Fantasien sie ausleben mochten an diesem Ort und mit ihrer persönlichen Leidensgeschichte konfrontiert. Konnte man das, was sie in Andis Gewalt erlebt hatte, die seelischen und körperlichen Grausamkeiten, wirklich nachvollziehen?
Sie selbst konnte es ja nicht einmal mehr, wie sie staunend feststellte. Es war wie ein verblassender Alptraum. Sie zog die Bremsen fest und sprang mit den Füßen von den Pedalen auf die Straße. Erst mal nachdenken.
Was wollte sie unten im Tal überhaupt?
Mit Gerda reden. Sie ausfragen über Andi. Sie musste einfach mehr über diesen Menschen erfahren, der sie hatte umbringen wollen und den sie dann umgebracht hatte. Einen Menschen zu töten war keine Kleinigkeit, ob Notwehr oder nicht. Auch das hing ihr nach, drängte nach Aufarbeitung: Der Moment, in dem sie ihn in die Gletscherspalte manövriert und damit seinem Leben ein Ende bereitet hatte. Er könnte noch leben, unter welchen Umständen auch immer – lebte aber nicht mehr wegen ihr.
Hätte er überlebt, wäre sie dann tot? Würde sie da oben im Gletscher stecken, in einer Spalte, oder wie eine Schaufensterpuppe ausgestellt lebensnah aus einer Nische in Andis Horrorkabinett glotzen, während er seinen Hüttenbetrieb einfach so weiterlaufen ließe als habe es nie eine Nelli gegeben?
Sie musste zu Gerda, aber vorher musste sie zum Gletscher, zuallererst musste dieser Ort aufgearbeitet werden. Sie musste sich da oben noch mal frei bewegen können, unverfolgt und ohne Todesangst, um zu begreifen, wie schlimm das damals gewesen war, und um aufzuhören, diese Situation zu verklären.
Das war es doch, was sie trieb: Sie hatte noch nie einen Sonnenaufgang so genossen wie an jenem Morgen auf dem Gletscher, frisch dem Tod entronnen und noch immer in Todesgefahr, denn Andi war ja hinter ihr her im Zeitlupentempo. Sie würde sich heute den Sonnenuntergang dort oben anschauen und damit hoffentlich abschließen, was noch in ihr rumorte. Dann am Gletscher übernachten und morgen ins Tal. Den Acht-Uhr-Anruf an die Herolder würde sie hier oben zwar vergessen können, aber sie hatte sie gestern schon darauf vorbereitet, wohl mal einen Tag aussetzen zu müssen, so lange sie sich in der Nähe des Passes aufhielt.
Es war jetzt später Nachmittag. Nelli schaute sich von ihrem Standort am Straßenrand aus nach einem Lagerplatz um, der von der Straße aus nicht einzusehen sein würde. Gar nicht so einfach hier oben ein paar Quadratmeter flachen Untergrundes zu finden. Links ging es steil nach oben, rechts, direkt neben ihr, in die Tiefe.
Ein Auto kam ihr von unten herauf entgegen. Nelli kannte die Marke nicht, irgendein blauer Familienwagen, besetzt mit zwei Männern und einer Frau, die sie neugierig anstarrten. An Nelli vorbei auf dem Weg zu Nellis Alptraumplatz. Wo waren sie dem Opfer Nelli Prenz näher, hier bei ihr oder dort oben, wo Andi ihr die Seele aus dem Leib hatte frosten wollen? Was suchten sie – falls sie überhaupt wegen
Weitere Kostenlose Bücher